BFH bestätigt: Hinterziehung als Tatbestandsmerkmal für §§ 235, 169 II 2, 191, 71 AO muss vom FA nachgewiesen werden
Von RA Dr. jur. Jörg Burkhard, FA für Steuerrecht und Strafrecht, Wiesbaden
BFH, Urteil vom 12. Juli 2016 – II R 42/14 –, BFHE 254, 105, BStBl II 2016, 868: Für die Feststellung einer Steuerhinterziehung trägt die Finanzverwaltung die Darlegungs- und Feststellungslast. Dies folgt schon aus dem Grundsatz, dass die Verwaltung die Beweislast für alle steuerbegründenden und steuererhöhenden Tatbestandsmerkmale trägt. Will das FA also Hinterziehungszinsen, eine Haftungsinanspruchnahme oder eine verlängerte Festsetzungsfrist durchsetzen, ist sie hierfür beweisbelastet. Die Feststellung einer Steuerhinterziehung darf im Steuerrecht nicht nach den Regeln der Feststellungslast zu Lasten des Steuerpflichtigen angenommen werden. Der Steuerpflichtige muss sich also nicht exculpieren – das FA muss die die Tatbestandsmerkmale darlegen und beweisen, die die Steuerhinterziehung belegen. Der Steuerpflichtige muss nicht seine Unschuld, also die Nicht-Steuerhinterziehung. Vermutungen, allgemeine Lebenserfahrungen, bloße Behauptungen oder die Meinung des Prüfers sind aber noch kein Beweis für das Vorliegen der objektiven und subjektiven Merkmale der Steuerhinterziehung. Die Entscheidung bestätigt erneut, dass die Beweislast (Feststellungslast) für eine Steuerhinterziehung bei der Finanzverwaltung liegt. Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit und dennoch legt diese neue BGH-Entscheidung vom 12.07.16 noch einmal die Grundsätze fest: Die objektive Beweislast für das Vorliegen aller Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung hat die Finanzbehörde zu tragen (BFH-Beschluss vom 21. August 2014 VII B 191/13 BFH/NV 2015,1; Banniza in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 169 AO Rz 69; Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 169 AO Rz 25, jeweils m.w.N.). Insoweit ist weder die Einleitung eines Strafverfahrens noch eine Verurteilung erforderlich (Witte/Alexander, ZK Art. 221 Rz. 12; FG Bremen, Urteil vom 17. November 2016 – 4 K 30/15 (2) –, juris ).Das Neue an der Entscheidung ist nicht, dass sie juristisch neu ist oder eine neue Erkenntnis prägt: sie dokumentiert ein Stück Zeitgeist, der zeigt, dass es offenbar doch in der Finanzverwaltung sich hartnäckig das Vorurteil und die Fehleinschätzung hält, dass jeder objektive Fehler in der Steuererklärung/Anmeldung vorsätzlich sei. Vor diesem Hintergrund kann es gar nicht wichtig und ernst genug genommen werden, dass der BFH erneut und völlig zu Recht auf die Darlegungs- und Beweislast (Feststellungslast) der Finanzbehörde für das Vorliegen einer Steuerhinterziehung verweist. Alles andere sind dann bloße Möglichkeiten oder unhaltbare Spekulationen, die Unterstellungen und üble Nachreden sind, wenn sie nicht bewiesen werden können und einfach behauptet werden.
Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen von Normen des materiellen Strafrechts –hier des § 370 AO– bei der Anwendung steuerrechtlicher Vorschriften wie § 235 Abs. 1, § 169 Abs. 2 Satz 2 oder § 71 AO von den Finanzbehörden oder den Finanzgerichten festzustellen, sind verfahrensrechtlich die Vorschriften der AO und der FGO maßgebend – und nicht die Strafprozessordnung. Auch im Besteuerungs- und Finanzgerichtsverfahren ist zwar der strafverfahrensrechtliche Grundsatz in dubio pro reo zu beachten. Dies bedeutet aber keine Übernahme von Grundsätzen des Strafverfahrensrechts, sondern lässt sich daraus ableiten, dass die Finanzbehörde im finanzgerichtlichen Verfahren die objektive Beweislast (Feststellungslast) für steueranspruchsbegründende Tatsachen trägt (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH vom 5. März 1979 GrS 5/77, BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570, 573, unter C.II.1.; BFH-Beschluss vom 21. April 2016 II B 4/16, BFH/NV 2016, 1130; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 71 AO Rz 8; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 71 AO Rz 8), so der BFH in seiner Entscheidung vom 12.07.16.
Danach hat das FG gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO aufgrund seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden, ob für die Festsetzung von Hinterziehungszinsen diejenigen Tatsachen vorliegen, die den Tatbestand des § 370 AO ausfüllen. Dies gilt auch bei der Verletzung der sog. erweiterten Mitwirkungspflichten bei Auslandssachverhalten nach § 90 Abs. 2 AO i.V.m. § 76 Abs. 1 Satz 4 FGO (BFH-Urteil vom 1. Oktober 2014 II R 6/13, BFHE 247, 115, BStBl II 2015, 164, m.w.N.). Es ist kein höherer Grad von Gewissheit erforderlich als für die Feststellung anderer Tatsachen, für die die Finanzbehörde die Feststellungslast trägt (BFH-Urteile vom 14. August 1991 X R 86/88, BFHE 165, 458, BStBl II 1992, 128, m.w.N., und vom 7. November 2006 VIII R 81/04, BFHE 215, 66, BStBl II 2007, 364; BFH-Beschluss vom 18. Juni 2013 VIII B 92/11, BFH/NV 2013, 1448). Eine Entscheidung nach den Regeln der Feststellungslast zu Lasten des Steuerpflichtigen ist hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen einer Steuerhinterziehung jedoch nicht zulässig (BFH, Urteil vom 12. Juli 2016 – II R 42/14 –, BFHE 254, 105, BStBl II 2016, 868).
Führt z.B. der Steuerpflichtige aus, der Annahme einer freigebigen Zuwendung stehe entgegen, dass er als Zuwendungsempfänger durch die Zuwendung nicht bereichert sei, da ihm der Zuwendungsgegenstand schon zuvor gehört und der Zuwender den Zuwendungsgegenstand für ihn lediglich als Treuhänder gehalten habe, gehört bei einer Steuerhinterziehung das Nichtvorliegen eines Treuhandverhältnisses zu den Tatsachen, für welche das Finanzamt im Rahmen der Annahme einer freigebigen Zuwendung die Feststellungslast trägt (BFH, Urteil vom 12. Juli 2016 – II R 42/14 –, BFHE 254, 105, BStBl II 2016, 868).
Die im Hauptsacheverfahren geltenden Regeln zur Feststellungslast gelten auch für das Aussetzungsverfahren (vgl. BFH, Beschlüsse vom 5. März 1979 – GrS 5/77, BStBl. II 1979, 570; vom 24. April 1985 – II B 28/84, BStBl. II 1985, 520; vom 24. Mai 1993 – V B 33/93, BFH/NV 1994, 133; Finanzgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. August 2016 – 5 V 5089/16 –, juris). Anders aber FG Hamburg (FG Hamburg, Beschluss vom 08. Dezember 2015 – 3 V 194/15 –, juris), das wie folgt entschied: „Für die Beurteilung, ob die verlängerte Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO eingreift, hat das FG die objektiven und subjektiven Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung, d. h. eines der Tatbestände des § 370 Abs. 1 AO, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen (BFH-Urteil vom 11.12.2012 IX R 33/11, juris).
Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen von Normen des materiellen Strafrechts – hier des § 370 AO – bei der Anwendung steuerrechtlicher Vorschriften wie § 169 Abs. 2 Satz 2 AO oder § 71 AO von den Finanzbehörden und den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit festzustellen, sind verfahrensrechtlich die Vorschriften der AO und der FGO maßgebend und nicht die Strafprozessordnung (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 05.03.1979 GrS 5/77, BFHE 127, 140, 145, BStBl II 1979, 570, 573). Indessen ist auch im Besteuerungs- und Finanzgerichtsverfahren der strafverfahrensrechtliche Grundsatz „in dubio pro reo“ zu beachten (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 05.03.1979 GrS 5/77, BFHE 127, 140, 145, BStBl II 1979, 570, 573). Dies lässt sich daraus ableiten, dass die Finanzbehörde (der Steuergläubiger) im finanzgerichtlichen Verfahren die objektive Beweislast (Feststellungslast) für steueranspruchsbegründende Tatsachen trägt. Es ist bezüglich des Vorliegens einer Steuerhinterziehung indes kein höherer Grad von Gewissheit erforderlich als für die Feststellung anderer Tatsachen, für die das Finanzamt die Feststellungslast trägt (BFH-Urteil vom 07.11.2006 VIII R 81/04, BFHE 215, 66, BStBl II 2007, 364). Welche Anforderungen gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz FGO im Einzelfall an die richterliche Überzeugungsbildung gestellt werden müssen, entzieht sich weitgehend abstrakter Festlegung. Grundsätzlich muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorliegen der entscheidungserheblichen Tatsachen bilden. Das bedeutet, dass der Tatrichter ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem persönlichen Gewissen unterworfen persönliche Gewissheit in einem Maße erlangt, dass er an sich mögliche Zweifel überwindet und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr überzeugen kann, wobei der Richter nicht eine von allen Zweifeln freie Überzeugung anstreben darf, sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen vielmehr mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit überzeugen muss (BFH-Urteil vom 15.01.2013 VIII R 22/10, BFH/NV 2013, 799). Da in einem AdV-Verfahren die entscheidungserheblichen Tatsachen nur glaubhaft zu machen sind, tritt insoweit eine Sachverhaltsfeststellung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit an die Stelle des Vollbeweises (Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 FGO Rz. 123; FG Hamburg, Beschluss vom 08. Dezember 2015 – 3 V 194/15 –, juris).“ Damit aber wird durch die Überlegung des FG Hamburg durch die Herabsetzung der Anforderungen an den Vollbeweis die Beweislast ausgehebelt-Wahrscheinlichkeitsüberlegungen oder Vermutungen sind auch im AdV-Verfahren nicht anzustellen – im AdV-Verfahren gelten aber dieselben Beweislastgrundsätze wie im Hauptsacheverfahren und wenn die behauptete Hinterziehung nicht nachgewiesen werden kann, kann sie nicht einfach unterstellt oder vermutet werden.
Die Entscheidung des BFH ist völlig zutreffend. Das FA muss die Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung in vollem Umfang beweisen.
Folgende Beispiele sind hier instruktiv – aber nicht abschließend:
- Hierzu gehört auch der Nachweis des Vorsatzes. Bedingter genügt zwar, aber auch diesen muss das FA beweisen. Wird z.B. ein Fahrtenbuch von einem oder mehreren Mitarbeiter(n) genutzt (sog. Poolfahrzeug) und erweisen sich die Eintragungen der Mitarbeiter als falsch und erkennt der Unternehmer das nicht, liegt keine vorsätzliche Steuerhinterziehung vor. Selbst wenn der Unternehmer die Fehler bei den KM-Angaben hätte durch Entfernungsrecherchen hätte ggf. erkennen und ermitteln können, begründet dies allenfalls einen Fahrlässigkeitsvorwurf. Damit liegt aber gerade keine vorsätzliche Steuerhinterziehung vor. Ständige oder stichprobenartige Kontrollen oder Verprobungen der Fahrtenbucheinträge sind vom Unternehmer steuerlich nicht vorgesehen oder gar vorgeschrieben.
- In einer Gastwirtschaft bonieren Bedienungen z.T. nicht und rechnen über Bierblöcke die ausgegebenen Speisen und Getränke ab und erhöhen so ihren Stundenlohn. Diese Bierblockumsätze werden nicht nachboniert und der Gastwirt erhält dieses Geld natürlich nicht. Der Gastwirt hätte dies bei seiner modernen PC-Kasse ggf. feststellen können, da einzelne Bedienungen in bestimmten Zeitzonen auffallend wenig Umsatz hatten bzw. im Vergleich zu anderen Bedienungen weniger Umsatz hatten. Der Gastwirt sagt, ihm seien die unterschiedlichen Umsatzhöhen nicht aufgefallen und er habe die Zeitzonenauswertung bei den Bedienungen nicht durchgeführt bzw. keinen Abgleich der Bedienungen untereinander gemacht. Dass der Gastwirt wie ein Betriebsprüfer revisionsartig prüft ist weder steuerlich vorgeschrieben, noch üblich. Auch wenn moderne PC-Kassen solche Auswertungen ermöglichen, gehört hierzu ggf. ein Anfangsverdacht oder ein Auswertungsinteresse, das solche Plausibilitätsprüfungen nahelegt. Aber selbst wenn solche Überprüfungen vorgenommen werden würden, enttarnen Auffälligkeiten im Zeitzonenvergleich nicht sicher die einzelne Bedienung: immerhin könnten an ihren Tischen in den auffälligen Zeitzonen ausnahmsweise keine Abrechnungen erfolgt sein, weil ggf. Gäste länger verweilten, weniger konsumierten oder die Tische leer blieben. Die betreffende Kellnerin könnte also, wenn die Auffälligkeiten in der Zeitzonenanalyse aufgefallen wären, diese plausibel oder jedenfalls unwiderlegbar im Nachhinein erklären. Dass der Gastwirt diese Gelder doch erhalten hat oder selbst kassiert hat oder zu einer bestimmten Quote mit der Bedienung geteilt hat, kann man nicht einfach unterstellen. Wenn also der Gastwirt nicht selbst bedient bzw. nicht selbst abrechnet, sondern dies ausschließlich über seine fremdangestellten Bedienungen läuft, kann bei fehlenden Einnahmen nicht einfach zu seinen Lasten unterstellt werden, er habe sie selbst vereinnahmt. Dies kann weder steuerlich noch steuerstrafrechtlich ihm einfach unterstellt werden. Dass es grundsätzlich auch möglich wäre, dass er im Nachhinein Erlöse storniert hat, führt zu keinen anderen Ergebnis, weil nicht einfach zu seinen Lasten unterstellt werden kann, er habe im Nachhinein Umsätze storniert um so schwarze Einnahmen zu generieren. Kommt also aufgrund von Verprobungen ein Mehrumsatz als wahrscheinlich heraus, heißt das nicht zwingend, dass der Gastwirt manipuliert hat, sofern fremde Dritte in den Bestellt- bzw. Buchungs-, Abrechnungs- und Abkassierungsprozess teilweise oder ganz eingebunden sind.
- Die Buchführung wird verworfen, weil die Organisationsunterlagen zur elektronischen Kasse in einer GmbH nicht auffindbar sind. Es wird hinzugeschätzt, § 162 AO. Eine Hinterziehung ist nicht nachweisbar. Weder kann der Geschäftsführer nach §§ 191, 71 AO in Haftung genommen werden, noch können Hinterziehungszinsen nach § 235 AO festgesetzt werden, noch eine verlängerte Festsetzungsfrist nach § 169 II 2 AO angenommen werden.
- Der Aussteller von Eingangsrechnungen ist nicht (mehr) auffindbar. Er hatte eine Gewerbeanmeldung und einen Unternehmerfragebogen abgegeben, nie Erklärung oder Voranmeldungen eingereicht, geschweige denn Steuern auf die Schätzungsbescheide gezahlt. Ob er Scheinunternehmer oder missing trader ist, ob er einfach nur weggezogen ist, ob er sich der Besteuerung entziehen wollte, ob er andere Probleme hatte, ob er einfach nur wirtschaftlich erfolglos war und sein Geschäft schloss oder schließen musste, ob er verstarb etc. lässt sich nicht klären. Der Unternehmer, der die Eingangsrechnungen steuermindernd bzw. zum Vorsteuerabzug verwendete hat nicht gewusst, dass der andere Unternehmer keine Erklärungen/Voranmeldungen einreichte und seinen steuerlichen Verpflichtungen nicht nachkam. Es kann nicht zu seinem Nachteil einfach unterstellt werden, er habe gewusst, dass der andere seinen steuerlichen Verpflichtungen nicht nachkomme und die Finanzverwaltung ihn als Scheinunternehmer einstufe, bei dem Betriebsausgaben und Vorsteuerabzug aus den Eingangsrechnung zu versagen sei. Zwar kann das FA den Betriebsausgabenabzug und den Vorsteuerabzug versagen, wenn die richtige Anschrift und die Existenz des Unternehmers damals zum Zeitpunkt der Geschäftsbeziehung nicht nachgewiesen wird – aber steuerstrafrechtlich kann nicht unterstellt werden, der StPfl habe gewusst, dass der andere Unternehmer seinen steuerlichen Verpflichtungen nicht nachkomme und alsbald abtauchen würde. § 160 AO geht zwar bei Zweifeln, ob der Rechnungsaussteller tatsächlich existierte bzw. wer der wahre Zahlungsempfänger war, aber die Festsetzung von Hinterziehungszinsen bei der Nachzahlung der Ertrags- und Umsatzsteuern ist nicht möglich, weil die Hinterziehung seitens des Rechnungsempfänger weder objektiv noch subjektiv nachgewiesen ist.
- Der Steuerpflichtige macht aus Eingangsrechnungen Betriebsausgaben und Vorsteuern geltend. Weil ein anderes Steufa.FA gegen diese rechnungsaussetellenden Firmen ermittelt, kommt es zu einer abgekürzten AP beim Steuerpflichtigen und zur Versagung des Vorsteuerabzugs. In der Diskussion steht, ob es sich um Karussellgeschäfte handelt. Während der Unternehmer grundsätzlich nur die Vorsteuer aus ordnungsgemäßen Rechnungen im Sinn des § 15 UStG ziehen darf[1], ist er dennoch nicht dafür verantwortlich, dass es den anderen Unternehmer gibt, muss dessen Existenz nicht nachweisen und muss diesen auch nicht auf seien steuerliche oder reale Existenz hin überprüfen. Selbst wenn die anderen Steufa-FÄ beweisen, dass es sich um Scheinunternehmen handelt, darf der gutgläubige Steuerpflichtige aus diesen Scheinrechnungen die Betriebsausgaben und Vorsteuern geltend machen, wenn er die Ware erhalten hat und hinsichtlich der Existenz der Scheinfirma gutgläubig war[2].Dass er ggf. mehr hätte ermitteln können und dann, bei Recherchen wie sei die Steufa machte ggf. Zweifel an der Existenz seines Vertragspartners bekommen hätte, kann ihm nicht als positives Wissen angelastet oder unterstellt werden. Wenn überhaupt, dann ist der Vorwurf, er habe nicht weiter ermittelt, allenfalls ein Fahrlässigkeitsvorwurf, wobei er zu Ermittlungen nicht verpflichtet ist. Ein „Erkennenkönnen“ (bei weiteren detektivishen oder steuerfahndungsmäßigen Ermittlungen) ist mit einer positiven Kenntnis gleich zu setzen. Ein „Erkennenkönnen“ ist auch nicht ein „Erkennenmüssen“, was sich nur aus Indizien ergeben kann, die der Steuerpflichtige auch tatsächlich wahrgenommen hat und nicht solchen, die er hätte bloß wahrnehmen können. Ein“Erkennmüssen“ ist aber immer noch nicht bedingter Vorsatz, sondern nur (wenn überhaupt) grobe Fahrlässigkeit, also Leichtfertigkeit. Damit scheiden Hinterziehungszinsen, Haftungsinanspruchnahmen aus. Es bleibe allenfalls eine auf 5 Jahre verlängerte Festsetzungsverjährungsfrist nach § 169 II 2 AO, wenn man Leichtfertigkeit bejaht. Bei einfacher oder mittelschwerer Fahrlässigkeit bleibt es bei der Regelfestsetzungsverjährungsfrist (plus wie immer Anlaufhemmung nach § 170 AO).
- Ach eine Beteiligung an einem Umsatzsteuerkraussell kann nicht einfach behauptet werden, vielmehr muss die Verwaltung auch hier die wissentliche Beteiligung an dem Karussell beweisen. Das Recht auf Vorsteuerabzug kann dem Unternehmer verweigert werden, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Unternehmer, dem die Gegenstände geliefert bzw. dem gegenüber die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass dieser Umsatz in eine vom Liefernden bzw. vom Leistenden oder einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangene Steuerhinterziehung einbezogen war. Ein Unternehmer, der wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist, ist nämlich für die Zwecke der MwStSystRL als an dieser Hinterziehung Beteiligter anzusehen, und zwar unabhängig davon, ob er im Rahmen seiner besteuerten Ausgangsumsätze aus dem Weiterverkauf der Gegenstände oder der Verwendung der Dienstleistungen einen Gewinn erzielt (Urteile des Europäischen Gerichtshofs –EuGH– vom 6. Juli 2006 C-439/04 und C-440/04, Kittel und Recolta Recycling, UR 2006, 594; vom 21. Juni 2012 C-80/11 und C-142/11, Mahagében und Dávid, UR 2012, 591, Rz. 40; BFH-Urteil vom 19. April 2007 V R 48/04, BFHE 217, 194, BStBl II 2009, 315; Finanzgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 23. Juni 2016 – 1 V 1044/16 –, juris).Welche Maßnahmen im konkreten Fall vernünftigerweise von einem Unternehmer, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, verlangt werden können, um sicherzustellen, dass seine Umsätze nicht in einen von einem Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangenen Betrug einbezogen sind, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen ab (EuGH-Urteil vom 22. Oktober 2015 C-277/14, PPUH Stehcemp, UR 2015, 917, Rz. 51). Liegen Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung vor, kann ein verständiger Wirtschaftsteilnehmer zwar nach den Umständen des konkreten Falls verpflichtet sein, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, von dem er Gegenstände oder Dienstleistungen zu erwerben beabsichtigt, Auskünfte einzuholen, um sich von dessen Zuverlässigkeit zu überzeugen (EuGH-Urteile vom 21. Juni 2012 C-80/11 und C-142/11, Mahagében und Dávid, UR 2012, 591, Rz. 60). Die Finanzbehörden können jedoch von dem Unternehmer, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, nicht generell verlangen, zum einen zu prüfen, ob der Aussteller der Rechnung über die Gegenstände und Dienstleistungen, für die dieses Recht geltend gemacht wird, Unternehmer ist, über die fraglichen Gegenstände verfügte und sie liefern konnte und seinen Verpflichtungen hinsichtlich der Erklärung und Abführung der Umsatzsteuer nachgekommen ist, um sich zu vergewissern, dass auf der Ebene der Wirtschaftsteilnehmer einer vorhergehenden Umsatzstufe keine Unregelmäßigkeiten und Steuerhinterziehung vorliegen, oder zum anderen entsprechende Unterlagen vorzulegen (EuGH-Urteile vom 21. Juni 2012 C-80/11 und C-142/11, Mahagében und Dávid, UR 2012, 591, Rz. 61).
- Die Darlegungs- und Feststellungslast für die Bösgläubigkeit des Leistungsempfängers trägt die Finanzbehörde (EuGH-Urteile vom 21. Juni 2012 C-80/11 und C-142/11, Mahagében und Dávid, UR 2012, 591, Rz. 49; vom 6. September 2012 C-324/11, Tóth, UR 2012, 851, Rz. 51; vom 6. Dezember 2012 C-285/11, Bonik, UR 2013, 195, Rz. 43; vom 13. Februar 2014 C-18/13, Maks Pen, UR 2014, 861, Rz. 29; vom 22. Oktober 2015 C-277/14, PPUH Stehcemp, UR 2015, 917, Rz. 50; Finanzgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 23. Juni 2016 – 1 V 1044/16 –, juris). Der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer ist –entgegen früherer Rechtsprechung des BFH– nicht verpflichtet, einen echten „Negativbeweis“ dahingehend zu führen, dass er keine Anhaltspunkte für etwaige Ungereimtheiten in Bezug auf den Leistenden oder die Leistung hatte (Finanzgericht –FG– Münster, Beschluss vom 12. Dezember 2013 5 V 1934/13 U, Entscheidungen der Finanzgerichte –EFG– 2014, 395). Verbleibende Zweifel gehen damit zu Lasten der Finanzbehörde. Die Regeln über die objektive Feststellungslast gelten auch im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung (BFH-Beschluss vom 26. August 2004 V B 243/03, BFH/NV 2005, 255; Finanzgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 23. Juni 2016 – 1 V 1044/16 –, juris).
- Dagegen können Wirtschaftsteilnehmer, die alle Maßnahmen treffen, die vernünftiger-weise von ihnen verlangt werden können, um sicherzustellen, dass ihre Umsätze nicht in einen Betrug –sei es eine Mehrwertsteuerhinterziehung oder ein sonstiger Betrug– einbezogen sind, auf die Rechtmäßigkeit dieser Umsätze vertrauen, ohne Gefahr zu laufen, ihr Recht auf Vorsteuerabzug zu verlieren (EuGH-Urteile vom 6. Juli 2006 C-439/04 und C-440/04, Kittel und Recolta Recycling, UR 2006, 594, Rz. 51; vom 21. Juni 2012 C-80/11 und C-142/11, Mahagében und Dávid, UR 2012, 591, Rz. 53; Finanzgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 23. Juni 2016 – 1 V 1044/16 –, juris).
- Ein Rentner bezieht mehrere Renten. Ihm ist damals von der Lohnbuchhaltung seines Betriebes vor seinem Ausscheiden mit 65 Jahren gesagt worden, er müsse bei der Betriebsrente und den anderen geringen Rente keine Einkommensteuererklärung einreichen. Er hat jedoch weitere Renten, die insgesamt zu einer Steuerpflicht führen. Er ist seit mittlerweile 9 Jahren Rentner. Durch eine Kontrollmitteilung aus einer Prüfung bei einer seiner Versicherungen wird dieser Sachverhalt entdeckt. Das FA will alle Jahre nachversteuern: es besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass der Rentner vorsätzlich pflichtwidrig die Abgabe von Steuererklärungen unterließ. Der Annahme der verlängerten Festsetzungsverjährungsfrist steht entgegen, dass der für die Annahme einer Steuerhinterziehung erforderliche Vorsatz für § 169 II 2 AO nicht bewiesen ist. Das FA müsste darlegen und beweisen, dass der Rentner erkannte, dass er mit seinen Renten insgesamt zu veranlagen ist und der Erklärungen abgeben müsste. Auch wenn er in jungen Jahren ein Betriebs- oder Volkswirtschaftliches Studium absolvierte und dabei Grundzüge der Steuerlehre kennenlernte, danach aber nie wieder etwas mit Steuern zu tun hatte, kann aus den damals vermittelten Studieninhalten keinen Kenntnis von seiner Steuerpflicht hergeleitet werden. Auch wenn der Rentner die Belehrung von der Lohnbuchhalterin nichtbeweisen kann, etwa weil diese sich nicht mehr erinnert, selbst in Rente ist oder aus dem Betrieb ausgeschieden ist, nicht mehr auffindbar ist usw., kann nicht zu seinen Lasten einfach unterstellt werden, er habe eine solche Belehrung nicht erhalten. Das FA müsste dann schon nachweisen, dass er keine solche Belehrung erhalten habe. Erst wenn also die Lohnbuchhalterin auffindbar ist und befragt und (etwa aus Angst vor Haftung oder Ärger wegen ihrer falschen Belehrung) bestreitet, so etwas gesagt zu haben, sie vielmehr das Gegenteil gesagt habe, wird man vorbehaltlich einer Würdigung dieser Aussage der Lohnbuchhalterung als Schutzbehauptung von einer pflichtwidrigen Nichtabgabe des Rentners ausgehen müssen und erst daraufhin die PZ erweitern können und Hinterziehungszinsen festsetzen können. Denn dann wäre durch die belastende Aussage der Lohnbuchhalterin seine positive Kenntnis von seiner Erklärungs- Abgabepflicht auszugehen und seine Nichtabgabe nur mit einem (bedingten) Hinterziehungsvorsatz verständlich. Bis zu der belastenden Aussage der Lohnbuchhalterin kann das FA die bedingt vorsätzliche Nichtabgabe nicht nachweisen. Ob die Aussage der Lohnbuchhalterin zutreffend ist oder ob sie ein Eigeninteresse an einer falschen Aussage hat oder ob sie eine unzutreffende Erinnerung hat, ist dann zu würdigen – und zwar nach den Grundsätzen, dass die Verwaltung, wenn sie eine verlängerte Festsetzungsfrist beanspruchen will, die Voraussetzungen hierfür, also das Vorliegen einer vorsätzlichen Steuerhinterziehung nach § 169 II 2 AO nachweisen muss. Eines Rückgriffs auf den Grundsatz in dubio pro reo oder die Unschuldsvermutung bedarf es insoweit nicht. Die Finanzverwaltung muss die Voraussetzungen der für sie günstigen Norm voll umfänglich beweisen. Ist die Buchhalterin nicht mehr auffindbar oder verstorben, kann nicht einfach angenommen werden, dass die Aussage des Rentner falsch sei, Lohnbuchhalter immer richtige Auskünfte erteilten oder sie gar nicht zur Steuerberatung berufen oder beauftragt gewesen sei und ein Steuerberater nach Prüfung eine andere, richtige Antwort erteilt hätte.
- Der Einzelhändler, der die alte Kasse gegen eine neue, fiskalisierte austauscht und die alte Kasse anschließend verkauft, in der Annahme, dass er zu deren Aufbewahrung gesetzlich nicht verpflichtet sei und dem wegen dieses Aufbewahrungsfehlers die Buchhaltung in der nächsten BP wegen Nichtprüfbarkeit der alten elektronischen Kassendaten verworfen wird, kann weder wegen dieses Aufbewahrungsfehlers einen verlängerten Prüfungszeitraum nach § 169 II 2 AO erhalten, noch können Mehrsteuern aufgrund geschätzter höherer Umsätze in den Zeiträumen der Nutzung der alten, nicht mehr vorhandenen Kasse mit Hinterziehungszinsen nach § 235 AO belegt werden, da keine vorsätzliche Steuerhinterziehung seitens des FA ihm nachgewiesen werden kann.
Es geht also bei diesen Fällen um mögliche Fehler des Steuerpflichtigen, bei denen fraglich ist, ob die Fehler vorsätzlich oder nur (einfach oder mittelschwer) fahrlässig oder gar leichtfertig erfolgten. Hier muss die Finanzverwaltung den Vollbeweis für das Vorliegen des Vorsatzes erbringen. Vermutungen oder Erfahrungssätze oder Behauptungen reichen nicht aus. Sollte die Finanzverwaltung (nur) leichtfertiges Handeln nachweisen können, das ist das besonders eklatante Vernachlässigen der eigenen Sorgfaltsanforderungen, bei denen jeder Dritte sagen würde, dass es sehr wahrscheinlich zu einer Rechtsgutsverletzung und zum Schadenseinritt (also der Steuerverkürzung) kommt, hätte dieser Nachweis nur bei der verlängerten Festsetzungsverjährungsfrist nach § 169 II 2 AO Auswirkungen, nämlich eine Verlängerung von 4 auf 5 Jahre plus Anlaufhemmung, während die Leichtfertigkeit bei der Haftung und den Hinterziehungszinsen keine Rolle spielt.
[1] Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG kann ein Unternehmer die gesetzlich geschuldete Steuer für eine sonstige Leistung nur dann als Vorsteuer abziehen, wenn das andere Unternehmen auch tatsächlich eine Leistung für sein Unternehmen erbracht hat. Die Darlegungs- und Beweislast dafür trägt nach bisher ständiger Rechtsprechung der Steuerpflichtige, der den Vorsteuerabzug begehrt (BFH-Urteil vom 27. Juni 1996 V R 51/93, BStBl II 1996, 620; vom 19. April 2007 V R 48/04, BStBl II 2009, 315), FG Hamburg, Beschluss vom 20. November 2012 2 V 264/12, UStB 2013, 114).
[2] Nach neuerer Rechtsprechung des EuGH (vgl. EuGH-Urteile vom 13. Februar 2014, C-18/13, Maks Pen, BB 2014, 863 ff., Rn. 26; vom 21. Juni 2012, C-80/11 und C-142/11, C-80/11, C-142/1, Mahagében und Dávid, DStRE 2012, 1336; vom 6. Dezember 2012, C-285/11, Bonik, DStRE 2013, 199,) ist es hingegen in bestimmten Fällen Aufgabe der Steuerverwaltung, (zunächst) konkrete Anhaltspunkte darzulegen, die gegen einen tatsächlichen Leistungsaustausch und für ein „Kennenmüssen“ beim Steuerpflichtigen sprechen (vgl. FG Münster, Beschluss vom 12. Dezember 2013 5 V 1934/13 U, EFG 2014, 395). Nach Auffassung des BFH hat jedoch der Steuerpflichtige auch auf Grundlage dieser EuGH-Rechtsprechung das tatsächliche Bewirken der Lieferung nachzuweisen (BFH-Beschlüsse vom 26. Februar 2014 V S 1/14 (PKH) BFH/NV 2014, 917, vom 8. Juli 2015 XI B 5/15 BFH/NV 2015, 1444).