Der Imbiss – oder Oliwia
Kleiner, sauberer Imbiss. „Balkan-Grill“ prangt draußen in großen Lettern über dem Eingang – etwas übertrieben, denkt Oliwia – aber Werbung darf doch ein bißchen marktschreierisch sein, oder? Ein paar Spieße, Cevapcici und gegrillte Leber gibt’s doch immerhin mittags. Pommes und Salat meist dazu. Passt doch. Von außen Nut und Federbretter. Honiggelb bis hellbraun. Einige Fenster, 4 kleine Tische drinnen mit je 4 Stühlen, draußen 2 Biertischgarnituren, 3 Stehtische, 2 Papierkörbe. Daneben ein kleiner Parkplatz für 3 bis 4 Fahrzeuge. Eigentlich wollte die Chefin nur mittags aufmachen, aber auch schon morgens kommt Kundschaft.
Oliwia macht morgens kurz vor 7 Uhr den Laden auf, belegt die ersten Brötchen, backt Croissants auf. Der Hausmeister vom Parkhaus nebenan kommt meist als erster und isst ein Brötchen und trinkt einen Caffee. Er ist scharf auf die kleine polnische Oliwia. Ab und zu kommen Handwerker rein, da gehen belegte Brötchen. Mal auch ´ne heiße Rinds- oder Fleischwurst. Meist aber belegte Brötchen, bis 10 Uhr sind die duftenden, heißen frisch aufgebackten Croissants weg. Die gibt’s offiziell gar nicht. Die kauft die Chefin, wie die Brötchen, immer selbst ein und bringt sie am Abend zum Aufbacken für den nächsten Tag. Butter, geschnittene Salami, Käseaufschnitt, Salat und Tomaten kauft die Chefin im nahegelegenen Discounter. Der Verkauf der Rinds- und Fleischwurst geht aber offiziell in den Einkauf und in die Bücher. Oliwia tippt die Verkäufe ein. Sie ist froh, wenn Annette oder Angela da sind. Ihre Kolleginnen übernehmen dann das Kassieren. Sie hat Angst, das mit dem Eintippen falsch zu machen. Ihre Chefin hat ihr es zwar erklärt, aber trotzdem …
Die anderen kennen sich mit der Kasse viel besser aus. Die haben auch mal abends einen Fünfziger für sich. Wechselgeldfehler sagen sie dann lachend und stecken das Geld ein. Oliwia kommt das komisch vor. Sie weiß nicht, warum ihr dieses Glück nicht passiert. Sie hat nie Wechselgeldfehler zu ihren Gunsten. Sie macht aber auch keinen Kassensturz und keine Kassenendabrechnung. Das machen nur die anderen beiden. Oder der Chef, wenn er abends da ist. Da ist sie aber meist schon lange weg. Sie hört davon immer nur von Annette oder Angela. Sie will nur Geld verdienen und dann mit ihrem Michal zurück nach Polen. Der schafft hier auf dem Bau, auch unangemeldet, wie sie. Noch ein paar Jahre, dann wollen sie zurück in ihr Heimatdorf Nähe Warschau. Dann wollen sie ein kleines Haus kaufen, Kinder haben, ein kleines Grundstück mit Kartoffeln, Salat und Erdbeeren.
Und einer Schaukel und einem Sandkasten für die Kinder, am liebsten 3 oder 4. Sie bekommt als Erzieherin in Polen eh nur einen Hungerlohn, wenn sie überhaupt einen Job bekommt. Er wird dann dort wieder bei einer Sanitärfirma arbeiten. Da bekommt er zwar auch kaum Geld, aber sie wollen keine Wochenendbeziehung – er soll nicht in Deutschland arbeiten und nur alle paar Wochen oder bestenfalls jedes Wochenende nach Hause kommen. Er soll ihre gemeinsamen Kinder aufwachsen sehen. Soll sie wickeln, mit ihnen spielen, raufen, sie tragen, füttern und im Kinderwagen spazieren fahren. Lieber haben sie dann weniger Geld, es wird schon irgendwie gehen, hofft sie.
Oliwia sieht im August einen Mann draußen gegenüber des Imbisses auf einer Parkbank sitzen. Da sitzt dieser Mann immer mittags. Liest Zeitung. Von kurz nach 12 bis kurz vor eins. Die Annette und Angela witzeln schon über ihn. Der Banksitzer sitzt da bei Wind und Wetter. Die Chefin lacht auch schon über den. Der kommt nie rein. Der kauft nix bei uns. Sitzt nur da, guckt immer mal wieder rüber. Liest Zeitung. Ob es immer dieselbe ist oder jeden Tag eine neue? Ob der kein Geld hat, was bei ihnen zu kaufen? Sollen sie dem mal was rausbringen? Macht aber natürlich niemand. Wo kämen sie denn da hin? Almosen für Banksitzer? Pah, geht doch gar nicht. Nicht mal ´n Kaffee.
Das geht so Tag für Tag, Woche für Woche …
Immer mittags um kurz nach 12 kommt er. An einem Tag, es war, glaubt sie, ein Mittwoch, tröpfelt es ein bisschen. Da sitzt er draußen auf der Parkbank, das Revers von seinem Trenchcoat hochgeschlagen, Mütze auf, sieht fast ein bisschen aus wie Columbo. Liest heute keine Zeitung, die würde ja auch aufweichen bei dem Tröpfeln. Guckt, nein, stiert fast rüber, so als wollte er ins Innere des Ladens gucken … durch und durch. Ob der sie ausspioniert? Ob der sie überfallen will? Aber wie ein Landstreicher sieht er nicht aus. Auch nicht wie ein Räuber. Eher so normal, so naja, … wie ein Büromensch halt … trotzdem komisch. So was hat sie noch nie erlebt: Kommt immer kurz nach 12, geht kurz vor eins …
Jeden Tag sitzt der Banksitzer da draußen. Jeden Tag von Montag bis Freitag. Immer von kurz nach 12 bis kurz vor eins. Immer mittags. Nie grüßt er. Nie ein Wort. Sitzt nur da. Liest und glotzt, stiert. Glotzt, stiert, sitzt, liest … stiert, sitzt, liest, glotzt … komisch …
Einmal regnet es. Das muss so in der 2. Woche gewesen sein. Donnerstag. Oder Mittwoch. Ist ja auch egal. Da sitzt er offenbar auf seiner Zeitung auf der Parkbank. Sitzt, glotzt, hat nichts zu lesen, hält einen blauen Regenschirm über sich, das Regenwasser tropft am Schirm herunter. Komisch … wer setzt sich denn bei Regen auf die Parkbank? Oliwia hatte ihn zuerst auch gar nicht gesehen, es war so viel los im Laden … doch dann, bei den Bestellungen sah sie an einigen gerade bestellenden Kunden vorbei – auf die Parkbank – und da saß er nun im Regen mit seinem blauen Schirm … sie wollte es noch ihrer Chefin erzählen, doch die war an diesem Tag krank, dann geriet es in Vergessenheit.
Nach zwei Wochen ist dann auf einmal Schluss. Kein Banksitzer mehr. Kein Glotzer, Kein Zeitungsleser. Einfach weg. So plötzlich, wie er kam, war er auch wieder weg. Am ersten Tag fiel Oliwia sein Fehlen sofort auf. War er krank? Weg … tot? Er gerät in Vergessenheit. Er ist längst kein Thema mehr. Keine Witze über Glotzer, Zeitungsleser, Banksitzer, Stierer. Aber ist das Vergessen auch beiderseits?
Keineswegs. Der Banksitzer ordnet seine Notizen, wertet die Anzahl seiner Mitschriften über die verkauften Speisen aus, hat seine Döner- und Spießverprobungen, die Pommestüten und anderen Speisen, fein säuberlich getrennt in Außerhausverkäufe und Verzehre vor Ort getrennt, die vorletztes Frühjahr gekauften Speisen sind längst verwogen und fein säuberlich die Menge der Zutaten festgehalten und tiefgefroren als Beweismittel, falls es vor Gericht darauf überhaupt ankommt. Er bekommt extra ein Handgeld von seinem Dienstherrn für solche Zwecke. Geld, um bei den späteren Kunden Essen zu gehen. Essen – nein, nicht wirklich. Nicht so, wie man sich das gemeinhin vorstellt. Er darf die Waren nur kaufen, wiegen, verproben, Material für die spätere Nachkalkulation sammeln. Oder für ein Steuerstrafverfahren. Damit nicht der Gastronom bei der Verprobung behaupten kann, er habe in dieser Zeit kiloweise mehr Lebensmittel in die Gerichte gesteckt, als vom Prüfer angenommen.
Das ist immer die alte Diskussion: wieviel Fleisch ist im Döner, wieviel wiegt das Schnitzel, wieviel Fleisch war auf dem Spieß, was wiegen die Zutaten, wieviel Pommes waren in der Tüte, wie groß waren die Tüten? Da gibt es Unterscheide. Wieviel Verschnitt ist dabei? Und so weiter. Als würden die was wegwerfen. Gibt es tatsächlich Abschnitt beim Schnitzel, geht das doch garantiert in was anderes oder die essen es selbst. Wer glaubt schon, dass die teures Fleisch wegwerfen? Da wird doch alles verkauft. Aber mit dem Kauf des Spießes mit Pommes und Salat in der To-go-Box hat er den Fleischeinsatz für den Spieß, die Pommesportion und die Salatportion. Das sind die gängigsten Gerichte in dem Kiosk zur Mittagszeit. Das war im Frühjahr vor zwei Jahren auch schon so und ist jetzt in den 2 Wochen auch wieder so gewesen. Er hat damals auch den Kiosk 2 Wochen lang mittags ausgezählt. Jetzt hat er genug Verprobungsmaterial und insbesondere auch den Wareneinsatz für einen der Umsatzbringer aus dem Prüfungszeitraum. Der Banksitzer erstellt Excel-Listen und bereitet die Wareneinsatzverprobungen und Prüfroutinen für die Kassenverprobungen vor.
Mal sehen, welchen Umsatz die Kassen in den 2 Wochen seiner Aufzeichnungen jetzt und im Frühjahr vor zwei Jahren so zeigen. Ob die Kasse vollständig ist? Er wird sich als erstes die Z-Bons, die betriebswirtschaftlichen Auswertungen der Kasse und die Kassenberichte sowie die Kassenprogrammierungen zeigen lassen. Besonders die Erfassungen zwischen 12 und eins sind für ihn interessant. Mal sehen, ob das Gebongte mit seinen Strichlisten übereinstimmt. Mal sehen, ob die Inhausverzehre stimmen oder ob alles in Außerhausverzehre umgewandelt wurde. Der Banksitzer liest aufmerksam den letzten Betriebsprüfungsbericht noch einmal durch, schreibt die Prüfungsanordnung und kündigt sein Kommen in drei Wochen an.
Lange ist das mit den zwei Wochen schon her. Die Verkäuferinnen haben ihn schon längst vergessen. Doch dann, eines Tages, steht er im Laden. Oliwia erkennt ihn sofort. Oh je, denkt sie, jetzt ist es so weit. Doch ein Überfall? Sie überlegt einen klitzekleinen Bruchteil einer Sekunde, ob sie jetzt schreien oder wegrennen soll, doch der Laden ist viel zu voll, viel zu voll für einen Überfall und zu voll um wegzurennen. Er stellt sich vor, Müller sei sein Name, er sei der Betriebsprüfer, zeigt seinen Ausweis. Später stellt sich heraus, dass er alle Verkäufe von 12 bis 1 Uhr in diesen 2 Wochen akribisch erfasst hat.
Er will die Kassenstreifen sehen von den 2 Wochen, in denen er draußen vor dem Laden saß. Der Chefin wird ganz schlecht – oh je. Betriebsprüfung. Sie hat schon so viel Schlimmes davon gehört, es kursieren immer so viele Geschichten, da weiß man nie, was davon stimmt und was nicht. Ihr Vorgänger hier, der soll ja pleite gegangen sein, wegen der vielen Steuerschulden, die er gehabt haben soll. Soll auch ein Steuerstrafverfahren gehabt haben und zu Haft verurteilt worden sein, soll sich irgendwann das Leben genommen haben. Sie weiß nicht, ob das alles so stimmt. Die Leute reden immer so viel.
Sie bittet ihn nach hinten, nur raus aus dem Verkaufsraum, nur weg von den Kunden, das muss keiner mitbekommen. Nur flüchtig überfliegt die Chefin den Dienstausweis des – was soll sie darauf auch erkennen oder prüfen, der wird schon echt sein. Hoffentlich prüft der auch nur so oberflächlich ihre Buchführung, wie sie seinen Dienstausweis. Als sich der Prüfer mit der Chefin durch die schmale Tür vom Verkaufsraum nach hinten vorbei an den Thekenverkäuferinnen durchzwängt, ist ihm, als höre er im Hintergrund Getuschel zwischen den Bediensteten. Es klingt fast so wie Banksitzer, Glotzer, Zeitungsleser – ist das nicht der, der immer hier hineingestiert hat? Er hört nicht darauf. Die Vorstellung und Belehrung an die Inhaberin erfolgt monoton und schematisch. Er kann sein Sprüchlein auswendig. Außerdem steht die Belehrung sowieso auf der Rückseite der Prüfungsanordnung.
Die Chefin ist sehr überrascht, als er ihr schon nach eineinhalb Stunden Prüfung für die drei Prüfungszeiträume anbietet: „40.000 € pro Jahr mehr Umsatz oder wollen Sie das volle Programm?“
Oliwia und ihre Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Firmen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt. Und doch spiegelt sie möglicherweise für den einen oder anderen irgendwie ein Fünkchen Realität wieder.
Für Fragen zu diesem rein hypothetischen Sachverhalt stehe ich gerne jederzeit zur Verfügung:
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