Widerspruch gegen Vernehmung behördlicher Zeugen
Die Funktionsweise des menschlichen Gehirns und die Grundlage von Fehlurteilen in der Justiz
Problemstellung: in Verfahren mit Behördenbeteiligung studieren die Beamten/Funktionsträger der Verwaltung zur Vorbereitung auf die Aussage bei Gericht die Behördenakten. Der Betriebsprüfer lässt sich sein Fallheft und die Steuerakten Wochen vor seiner Vernehmung schicken bzw. teilweise viele Wochen vor dem Vernehmungstermin aus dem Archiv holen und bereitet sich dann meist über mehrere Wochen oder Tage je nach Umfang der Akte 10-30, 40 oder 50 oder noch mehr Stunden lang auf seine Vernehmung vor, indem er die Akte mehr oder weniger auswendig lernt.
Damit wird das alte Wissen wieder aufgefrischt. Erinnerungslücken gibt es nicht mehr. Widersprüche oder Unklarheiten oder Verwechslungen mit anderen Akten werden ausgeschlossen. Ein behördlicher Zeuge hat daher nie Erinnerungslücken oder den Sachverhalt vergessen. Dies ist bei Fahndungsprüfungen durch Steuerfahnder oder Prüfung des Hauptzollamtes oder auch Polizeibeamten nicht anders:
Sie bereiten sich gemäß innerdienstlicher Anweisung pflichtgemäß auf ihre Aussage vor. Kein Wunder, dass die Beamten nichts vergessen haben und vollständig den Akteninhalt wiederholen können. Da sie auch vorher nicht vernommen werden, kann man ihnen nicht mal ihre frühere Aussage vorhalten. Widersprüche zu früheren Aussagen gibt es daher bei den behördlichen, professionellen Zeugen nicht. Die Messlatte bei Vernehmungen „normaler“ Zeugen ist damit völlig unterschiedlich. Die professionellen behördlichen Zeugen wiederholen den letzten Stand der Akte.
Es ist ein Referat über den Akteninhalt. Eigene Erlebnisse treten in den Hintergrund. Auch Ermittlungsergebnisse von Kollegen und Ergebnisse von Begutachtungen von Sachverständigen fließen mit in die Berichte der behördlichen Zeugen ein.
Sind das aber noch Zeugenaussagen?
Als Zeuge wird eine natürliche Person bezeichnet, die zu einem aufzuklärenden Sachverhalt eigene Wahrnehmungen bekunden kann („Zeugnis ablegen“), vgl. §§ 48 ff. StPO. Das ist also jemand, der selbst Erlebtes aus eigener Wahrnehmung und eigener Erinnerung wiedergeben kann. Dazu gehören Wahrnehmungsfehler, unvollständige Wahrnehmung und auch Schlussfolgerungen, aber auch Sinnestäuschungen und Wahrnehmungslücken, die das Gehirn schließt oder ergänzt. Dazu gehört aber auch ein Vergessen und ein Verdrängen.
Der „normale“ Zeuge bekommt extra keine Kopie seiner Aussage bei der Polizei oder der Finanzverwaltung, damit er sich gerade bei einer späteren Aussage vor Gericht nicht auf diese Aussage vorbereiten kann und die Aussage nicht noch einmal zur Vorbereitung auf die Vernehmung lesen kann. Es soll der Wahrheitsgehalt seiner Aussage an dem Kriterium der Aussagekontinuität geprüft werden:
Ob er zumindest im Wesentlichen zum Kerngeschehen gleich aussagt. Er soll gerade nicht seine ursprüngliche Aussage bei der Polizei oder der Bußgeld- und Strafsachenstelle oder der Steuerfahndung auswendig lernen und dann wiederholen können, sondern soll nur das aussagen, an was er sich wirklich erinnert. Das ist der Grund, warum „normale“ Zeugen keine Kopien ihrer Aussagen bei der Polizei bzw. Steufa bekommen, damit sie das nicht später vor einer erneuten Vernehmung noch einmal lesen können, um so Erinnerungslücken dann zu schließen und das zu repetieren, was sie damals sagten.
Warum ist die Handhabung bei den professionellen Zeugen so anders?
Und warum beurteilen die Richter die professionellen Zeugenaussage als glaubwürdig, wobei sie doch genau wissen, dass sich die professionellen Zeugen pflichtgemäß auf deren Aussagen vorbereitet und die Akte vorher gelesen und auswendig gelernt haben.
Das Herbeten des Akteninhalts legen dann die Richter als glaubwürdige Zeugenaussage einem Urteil zugrunde …?
Und sind das dann überhaupt noch Zeugenaussagen oder nicht vielmehr in der StPO nicht vorgesehene Aktenreferate? Und wenn es in der StPO keine Aktenreferate gibt, warum ist das dann zulässig?
Und warum wundern sich die Richter nicht über solche Verfahrensweisen .. ist es doch ihre wichtigste Aufgabe den Sachverhalt zu erforschen und die Wahrheit zu ermitteln …?
Immerhin gestaltet die Strafprozessordnung das Strafverfahren als einen vom Prinzip der materiellen Wahrheitserforschung beherrschten Amtsprozess aus, in dem das Gericht von Amts wegen zur Erforschung der Wahrheit verpflichtet ist. Dem Gebot der Sachaufklärung kommt dabei auch gegenüber dem Interesse an einer Verfahrensbeschleunigung und der Verhinderung bzw. Abwehr eines missbräuchlichen Verhaltens, wie der Stellung eines Beweisantrags zum Zwecke der Prozessverschleppung, grundsätzlich der Vorrang zu. Gebietet daher die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit, einem Beweisantrag in der Sache nachzugehen, darf er nicht wegen Prozessverschleppung abgelehnt werden (BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 2009 – 2 BvR 2580/08, NJW 2010, 592, 593 [Rn. 18], 594 [Rn. 26]; BGH, Beschluss vom 10. November 2009 – 1 StR 162/09, NStZ 2010, 161 f.).
Umso merkwürdiger ist das Verhalten der Richter gegenüber den professionellen Zeugen, wenn es doch ausschließlich und zuvörderst um die Erforschung der Wahrheit geht. Sind dann die, die die Akte auswendig gelernt haben und alles gelesen haben, nicht verbraucht, verbrannte Zeugen, die nur den angelesen Stoff rezitieren, so als hätten sie es gestern erlebt … dabei ist es meist viele Jahre her und die Beamten haben in Wahrheit keine blasse Ahnung mehr …
Wie erfrischend ist es dann, wenn die Beamten, die mich und meine Fragen und dieses Problem kennen, wenn diese Beamten dann ganz offen im Gerichtssaal einräumen, dass sie überhaupt keine Erinnerung mehr an diesen Fall haben, aber natürlich pflichtgemäß die Akte zur Vorbereitung gelesen habe und jetzt referieren können, was sie gestern zur Vorbereitung auf die heutige mündliche Verhandlung gelesen haben …
Mehr dazu?
Dann lesen Sie mehr dazu in Burkhard, HRRS 2020, 72 ff.