Steuerhinterziehung auch im Beitreibungsverfahren (Vollstreckung des Finanzamts)
Beispiele einer Steuerhinterziehung im Beitreibungsverfahren: Der Steuerpflichtige täuscht unter falschen Angaben zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen eine Stundungsbedürftigkeit vor. Oder er beantragt den Erlass von Säumniszuschlägen wegen damaliger angeblicher Zahlungsunfähigkeit nach § 227, 240 AO, obwohl er zahlungsfähig gewesen war.
Auch wenn sich die Angaben des Steuerpflichtigen über seine Vermögensverhältnisse auf Veranlagungszeiträume beziehen, welche hinsichtlich des Festsetzungsverfahrens bereits Gegenstand einer Verurteilung waren, steht einer Strafverfolgung nach Ansicht des BGH nicht das Verfahrenshindernis des Strafklageverbrauchs (§ 264 StPO, Art. 103 Abs. 3 GG) entgegen.
Obgleich das Beitreibungsverfahren Teil des Besteuerungsverfahrens ist, führt dies nicht dazu, dass unrichtige Angaben in verschiedenen Verfahrensabschnitten zu einem einheitlichen Lebensvorgang im Sinne des § 264 StPO gehören würden und deshalb Teile derselben Tat im prozessualen Sinne wären.
Eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung im Festsetzungsverfahren löst im Hinblick auf Taten im Beitreibungsverfahren keinen Strafklageverbrauch aus
Angesichts der neuen unrichtigen Angaben zu den Vermögensverhältnissen und damit neuem Tatunrecht liegt auch keine mitbestrafte Nachtat vor
Demgegenüber liegt nach der Rechtsprechung eine prozessuale Tat vor, wenn nach Abgabe einer falschen Steuererklärung gegenüber der Veranlagungsstelle im Festsetzungsverfahren das Ziel der Steuerverkürzung in der Folge im Rechtsmittelverfahren weiter verfolgt wird (BGH v. 19.12.1997 – 5 StR 569/96)
Steuerhinterziehung durch Unterlassen
Eine Steuerhinterziehung nach § 370 AO kann durch vorsätzliches Tun (falsche Angaben) oder durch vorsätzliches pflichtwidriges Unterlassen erfolgen (= keine Steueranmeldungen oder Steuererklärungen trotz Fälligkeit abgeben und wissend, dass dadurch die Festsetzungen von Steuerzahlungen nicht oder verspätet erfolgen). Bedingter Vorsatz (=billigendes Inkaufnehmen der Tatbestandsverletzung) genügt.
BGH v. 9.4.2013 – 1 StR 586/12; BGH v. 14.10.2015 – 1 StR 521/14:
Der Unterlassungstatbestand der Steuerhinterziehung ist ein „Jedermannsdelikt“, dass keine Beschränkung auf eine bestimmte Tätergruppe enthält.
Täter (auch Mittäter) einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen kann aber nur derjenige sein, der selbst zur Aufklärung steuerlicher Tatsachen besonders verpflichtet ist.
Das Merkmal „pflichtwidrig“ bezieht sich allein auf das Verhalten des Täters (bei dem es sich nicht um den Steuerpflichtigen handeln muss). Damit kommt eine Zurechnung fremder Pflichtverletzungen auch dann nicht in Betracht, wenn sonst nach den allgemeinen Grundsätzen Mittäterschaft vorliegen würde.
Eine Erklärungspflicht kann auch den Hintermann treffen, wenn er die Stellung eines Verfügungsberechtigten nach § 35 AO hat. Verfügungsberechtigter in diesem Sinne ist jeder, der nach dem Gesamtbild der Verhältnisse rechtlich und wirtschaftlich über Mittel, die einem anderen zuzurechnen sind, verfügen kann und als solcher nach außen auftritt.
Falsche Rechtsansichten und abweichende Rechtsansichten können Steuerhinterziehung sein?
BGH v. 10.11.1999 – 5 StR 221/99:
„Dem Steuerpflichtigen steht es frei, jeweils die ihm günstigste Gestaltung zu wählen. Er macht jedenfalls dann keine unrichtigen Angaben i.S. von § 370 I Nr. 1 AO, wenn er offen oder verdeckt eine ihm günstige unzutreffende Rechtsansicht vertritt, aber die steuerlich erheblichen Tatsachen richtig und vollständig vorträgt und es dem Finanzamt dadurch ermöglicht, die Steuer unter abweichender rechtlicher Beurteilung zutreffend festzusetzen.“
„Da sich hinter den mitgeteilten Zahlen die verschiedensten Sachverhalte verbergen können, die für das Finanzamt nicht erkennbar sind, besteht zumindest eine Offenbarungspflicht für diejenigen Sachverhaltselemente, deren rechtliche Relevanz objektiv zweifelhaft ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die von dem Steuerpflichtigen vertretene Auffassung über die Auslegung von Rechtsbegriffen oder die Subsumtion bestimmter Tatsachen von der Rechtsprechung, Richtlinien der Finanzverwaltung oder der regelmäßigen Veranlagungspraxis abweicht.“
Das Bundesverfassungsgericht dazu:
BVerfG v. 16.6.2011 – 2 BvR 542/09:
„Unabhängig davon ist es Steuerpflichtigen regelmäßig möglich und zumutbar, aus ihrer Sicht bestehende offene Rechtsfragen nach Aufdeckung des vollständigen und wahren Sachverhalts im Besteuerungsverfahren zu klären, statt auf das Bestehen einer vermeintlichen Strafbarkeitslücke zu hoffen.“
(ebenso: BVerfG v. 29.4.2010 – 2 BvR 871/04; BGH v. 8.9.2011 – 1 StR 38/11)
Schätzung der hinterzogenen Besteuerungsgrundlagen auch im Steuerstrafverfahren?
Ja!
BGH v. 20.12.2016 – 1 StR 505/16
Auch in Steuerstrafverfahren ist die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen zulässig, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige einen Besteuerungsbestand erfüllt hat, die tatsächlichen Verhältnisse, die für die Bemessung der Steuer maßgebend sind, aber ungewiss sind.
Beispiel: Es steht fest, dass die Buchführung des Steuerpflichtigen wegen unvollständig erfasster Betriebseinnahmen unvollständig ist.
Bei der Schätzung müssen die vom Besteuerungsverfahren abweichenden Verfahrensgrundsätze des Strafprozesses (§ 261 StPO) eingehalten werden. Erforderlichenfalls hat der Tatrichter einen als erwiesen angesehenen Mindestschuldumfang festzustellen.
Ist die konkrete Berechnung der Umsätze und Gewinne nicht möglich und kommen ausgehend von der vorhandenen Tatsachenbasis andere Schätzungsmethoden nicht in Betracht, darf das Tatgericht die Besteuerungsgrundlagen gestützt auf die Richtwerte für Rohgewinnaufschläge aus der Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen pauschal schätzen. Allerdings müssen auch bei dieser Schätzungsmethode die festgestellten Umstände des Einzelfalls in den Blick genommen werden. (Kritisch zur Richtsatzsammlung: Burkhard, BBP 2017, 14 ff.)
Das Tatgericht muss sich bei der Beweiswürdigung zum Rohgewinnaufschlag zwar einerseits nicht zugunsten eines Angeklagten an den unteren Werten der in der Richtsatzsammlung genannten Spannen orientieren, wenn sich Anhaltspunkte für eine positive Ertragslage ergeben.
Soweit Zweifel verbleiben, darf das Tatgericht aber andererseits auch nicht ohne Weiteres einen als wahrscheinlich angesehenen Wert aus der Richtsatzsammlung zugrunde legen. Es muss vielmehr einen als erwiesen angesehenen Mindestschuldumfang feststellen.
Auch bei Zugrundelegung des Mittelsatzes aus der amtlichen Richtsatzsammlung muss das Tatgericht in den Urteilsgründen ausführen, aufgrund welcher Anknüpfungstatsachen es davon überzeugt ist, dass es sich um einen Betrieb handelt, bei dem jedenfalls dieser Mittelsatz erreicht ist. Auch die Richtsatzsammlung geht davon aus, dass ein Abweichen durch besondere betriebliche oder persönliche Verhältnisse begründet sein kann.
Da die in der Richtsatzsammlung enthaltenen Rohgewinnaufschläge auf bundesweite Prüfungsergebnisse zurückgehen, muss das Tatgericht bei Anwendung der Richtsatzsammlung für die Schätzung im Strafprozess erkennen lassen, dass es die örtlichen Verhältnisse und – soweit vorhanden – die Besonderheiten des Gewerbebetriebes in den Blick genommen hat.
Die Richtsatzsammlung ist nach der hier vertretenen Auffassung völlig unbrauchbar und kann keine Grundlage für eine Schätzung sein – weder im Steuerrecht und erst Recht nicht im Steuerstrafrecht (vgl. Burkhard, BBP 2017, 14 ff).