CD-Ankäufe

Die allererste CD mit Daten deutscher Steuersünder mussten die deutschen

Steuerbehörden gar nicht erst kaufen, sondern bekamen sie frei Haus geliefert – in einem anonymen Brief, wohl von einem unzufriedenen Mitarbeiter des Rechtsanwalts Dr. Batliner aus Liechtenstein: Im Februar 2000 bekam die Bochumer Staatsanwältin Margrit Lichtinghagen eine CD mit Tausenden Datensätzen aus dem Büro des Liechtensteiner Stiftungstreuhänders Dr. Herbert Batliner zugespielt, darunter Namen und Daten von mindestens 400 deutschen Kunden.

Es handelte sich um elektronische Entwürfe aus den Daten der Anwaltskanzlei. Offenbar hatte der unzufriedene Mitarbeiter nicht Zugang zum Tresor mit den unterschriebenen Originalen, sondern nur Zugriff auf den PC und dort die Entwürfe oder finalen Endversionen der Texte kopiert. Allein aufgrund dieser Daten wurden bis 2010 mehr als 100 Verfahren wegen Steuerhinterziehung rechtskräftig abgeschlossen, wobei pro Fall im Durchschnitt eine ein- bis zweistellige Millionensumme hinterzogen worden war. Es sind von der Finanzverwaltung zahlreiche CD mit Namen von „Steuersündern“ gekauft worden. Allein NRW hat in der Zeit von 2002 bis 2006 5 Daten-CDs erworben. Von deutschen Behörden wurden dann im Januar 2006 CDs mit Steuerdaten angekauft. Bei der Liechtensteiner Steueraffäre bot ein früherer Mitarbeiter der LGT dem Bundesnachrichtendienst Bankdaten von rund 800 Personen an, darunter auch Klaus Zumwinkel, der 2009 wegen Steuerhinterziehung verurteilt wurde.

Die meisten Daten kaufte das Land Nordrhein-Westfalen. Im Februar 2010 wurde unter dem damaligen nordrhein-westfälischen Finanzminister Helmut Linssen eine CD mit Namen und Kontodaten von Kunden der Credit Suisse für 2,5 Millionen Euro angekauft. Im Oktober 2010 bezahlten Steuerfahnder für Kundendaten der Schweizer Bank Julius Bär und im Oktober 2011 für rund 3000 Kontoinformationen aus Luxemburg. Niedersachsen erwarb im Juni 2010 Zugang zu 35.000 Datensätzen mutmaßlicher Steuerbetrüger.

Dabei sind die Daten von Bankmitarbeitern oder Hackern unter Verstoß gegen das Bankgeheimnis oder den Datenschutz erlangt wurden. Datendiebstahl und Industriespionage lauten dort zum Teil die Vorwürfe (vgl. Wirtschaftsspionage oder berechtigte Fahndung?, tagesschau.de vom 3. April 2012). Es sind in den betroffenen Ländern Strafverfahren gegen Unbekannt bzw. die z.T bekannten Täter durchgeführt worden.

Die Schweizer Bankiervereinigung verlangte, Ankäufe von Steuerdaten-CDs zu unterbinden. „Sie sind illegal“, sagte Banken-Sprecher Thomas Sutter der „Sonntagszeitung“. Der Fraktionsvorsitzende der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP), Urs Schwaller, teilte mit, er habe „absolut kein Verständnis dafür, wenn sich ein Staat als Hehler betätigt. Das ist eines Rechtsstaats unwürdig.“

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Im April 2017 wurde in Frankfurt der ehemalige Schweizer Polizist Daniel M. aus Zürich wegen Spionagetätigkeiten verhaftet.

Er soll vom Nachrichtendienst des Bundes als freier Mitarbeiter mehrfach mit Operationen betraut worden sein, insbesondere um Informationen über die Steuerfahnder aus Nordrhein-Westfalen zu sammeln. Seine genaue Rolle und sein Beitrag an die Untersuchungen sind unklar (vgl. Thomas Knellwolf, Markus Häfliger, Mario Stäuble: So spionierte Daniel M. In: Tages-Anzeiger. 5. Mai 2017 und Marcel Gyr: Daniel M. weiter entlastet. In: Neue Zürcher Zeitung. Nr. 127, 3. Juni 2017, S. 13 ). Auch gab es in der Schweiz und Liechtenstein Ermittlungsverfahren gegen deutsche Finanzbeamte, die die CDs angekauft haben. Für mehrere Millionen € (2,5-4 Mio. €) sollen die einzelnen CDs gekostet haben, auf denen dann 1200-1800 Kundendaten deutscher Anleger bei den betreffenden Banken gewesen sein solle. Die CDs und die von der Finanzverwaltung gesteuerten Aufrufe und Werbungen für Selbstanzeigen brachten Milliarden ein. Es ist bzw. war zum Teil umstritten, ob solchermaßen erlangte Daten für Zwecke der Strafverfolgung in Deutschland verwertet werden dürfen bzw. durften. Die bisherige Praxis der Steuerfahndungen bejaht dies.

Die Gerichte folgten dem. Das Bundesverfassungsgericht hielt die Ermittlungsmaßnahmen aufgrund der gekauften CDs für zulässig bzw. Jedenfalls sah es in den Ermittlungen aufgrund dieser Daten keinen eklatanten Grundrechtsverstoß zum Nachteil eines der von einem solchen Duchsuchungsbeschluss Betroffenen. Es handelt sich bei dem Beschluss aus Karlsruhe nicht um die abschließende rechtliche Beurteilung aller mit solchen CDs verbundenen Fragen. Der Kontodaten-CD-Beschluss ist vor allem kein Freibrief, staatsanwaltliche Ermittlungen künftig beliebig durchführen zu können, wie manche jetzt meinen (das hat das BVerfG bereits an anderer Stelle entschieden: Urt. vom 29.11.2004, Az. 2 BvR 1034/02; Urt. vom 08.04.2009, Az. 2 BvR 945/08; Urt. vom 28.09.2008, Az. 2 BvR 1800/07). Zulässig ist nur, dass gegen auf den CDs benannte Personen ermittelt werden darf. Außerdem besteht dadurch die grundsätzliche Möglichkeit zu Hausdurchsuchungen nach § 102 StPO aufgrund der Erkenntnisse aus den CD-Daten-Ankäufen.Es ist davon auszugehen, dass auch in Zukunft mit der Einleitung von Strafverfahren zu rechnen ist, wenn die Daten erst einmal bekannt sind.

Es gibt bereits Erfahrungen über den Umgang der Steuerbehörden mit brisanten Informationen über Liechtensteiner Bankkonten. Aufgrund der Daten auf der Liechtenstein-CD kam es zu einer Vielzahl von Strafverfahren in ganz Deutschland.

Steuerfahnder dürfen auf Basis einer vom Staat gekauften Steuerdaten-CD ermitteln, so entschied der VerfGH Rheinland-Pfalz. Es seien jedoch Konstellationen denkbar, in denen das Handeln eines privaten Informanten der staatlichen Sphäre zuzurechnen sei. Die Gerichte seien daher gehalten, im Einzelfall den Grad der staatlichen Beteiligung an der Datenbeschaffung zu überprüfen. Dabei könne auch der erhebliche Anstieg von Ankäufen ausländischer Bankdaten und ein damit verbundener Anreiz zur Beschaffung dieser Daten von Bedeutung sein (Urt. v. 24.02.2014, Az. VGH B 26/13).

In einem vergleichbaren Fall hatte das Bundesverfassungsgericht im November 2010 ähnlich wie nun der VerfGH entschieden. Es komme nicht darauf an, ob der Kauf ursprünglich rechtmäßig gewesen sei (Beschl. v. 09.10.2010, Az. 2 BvR 2101/09).

Steuerdaten-CD

Seinerzeit ging es um eine CD mit Daten der Liechtensteiner LGT-Bank, die der Bundesnachrichtendienst gekauft und Steuerfahndern zur Verfügung gestellt hatte… oder: der Zweck heiligt die Mittel? Verträgt der Rechtsstaat eine Hehlerei an geklauten Daten, um Steuerhinterzieher zu enttarnen? Wo sind die Grenzen und wann werden sie überschritten und führen zu einer Unverwertbarkeit? Bei der Folter um ein Geständnis über eine Steuerhinterziehung zu erlangen, sind wir uns alle (hoffentlich) einig: das Geständnis wäre unverwertbar. Aber was ist, wenn aufgrund der Folter nun Daten bei einer Bank in einem Tresor gefunden wurden. Ist das Geständnis unverwertbar aber die gefundenen Daten in dem Tresor doch? Und mal auf einen harmloseren Fall: Darf der Fahnder in den Betrieb nachts einsteigen, um die brisante „doppelte“ Buchführung zu kopieren oder zu sichern um sie als Beweismittel zu verwenden? Daten verwertbar?

Gibt es noch aktuell Ankäufe von Daten-CDs? In einer Sitzung des Haushalts- und Finanzausschusses des Landes NRW vom 14.02.19 teilte der Landtag des Landes NRW mit:
„Aufgrund der Bitte der Fraktion der SPD vom 31.01.2019 wird zu dem Thema „Ankauf einer Steuer-CD“ wie folgt Stellung genommen:
In der Sitzung des Haushalts- und Finanzausschusses am 13.09.2018 wurde über ein nach Regierungswechsel eingegangenes, in der Phase der Prüfung befindliches, Angebot informiert.
Zu einem Datenerwerb konnte es nicht kommen, da der Anbieter sein Angebot zurückgezogen hat.“

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Übrigens:
„Bayern (wie wohl alle anderen Bundesländer auch) beteiligt sich an den Kosten für den Ankauf von Steuerdaten. Alle von anderen Bundesländern hierfür geltend gemachten Kosten wurden und werden mitfinanziert.“

Quelle: Bayrischer Landtag, Drucksache 16/16999 v 04.07.13, URL anzeigen

Und noch was:
2014: Helmut Linssen, der als NRW-Finanzminister den Ankauf von Steuer-CDs durchgesetzt hatte, gibt wegen früherer Geldanlagen in mittelamerikanischen Steueroasen, sein Amt als Bundesschatzmeister der CDU auf.

Quelle: URL anzeigen

Ungefährer Stand der bekannt gewordenen CD-Ankäufe:
Was tatsächlich die CD-Ankäufe brauchten und was die „Werbung“ mit der rettenden Selbstanzeige brachte, lässt sich wohl nicht klar trennen ….

Steuerhinterziehung im Einspruchs- oder Klageverfahren möglich?

Ja! Eine Steuerhinterziehung kann auch durch falsche Angaben zum Sachverhalt im Einspruchs- oder Klageverfahren gemacht werden. Häufig ist das aber eine mitbestrafte Nachtat, da schon bei der Erklärung der Sachverhalt (verdichtet mit falschen Zahlen) falsch erklärt wurde.

Beispiel einer Steuerhinterziehung im FG-Verfahren:

OLG München v. 24.7.2012 – 4 St RR 099/12:
„Adressat einer unrichtigen Angabe über steuerlich erhebliche Tatsachen kann somit auch ein Finanzgericht sein, wenn es im Rahmen einer auf die Aufhebung eines Bescheides zur Einkommensteuer abzielenden Klage steuererhebliche Feststellungen und Entscheidungen wie eine Finanzbehörde zu treffen hat.“

Vereinfachter Sachverhalt Fall OLG München:
Der Steuerpflichtige begründete eine Klage zum Finanzgericht wahrheitswidrig damit, dass die den Änderungsbescheiden zur ESt zugrundeliegende Tatsache des Getrenntlebens von seiner Ehefrau unzutreffend sei und diese Bescheide daher aufzuheben seien und der Splittingtarif anzuwenden sei. Tatsächlich lebten die Eheleute im streitigen VZ dauernd getrennt und hatten die Ehe auch nicht zeitweise wieder hergestellt.

Beachte:
Demgegenüber kommt eine Steuerhinterziehung durch das Machen falscher Angaben gegenüber dem Nachlassgericht nicht in Betracht. Das Nachlassgericht ist keine andere Behörde iSd § 370 Abs. 1
Nr. 1 AO, da hierzu nur Behörden zählen, die steuerlich erhebliche Entscheidungen treffen (BFH v. 30.1.2002 – II R 52/99).

CD Ankäufe

Datum Institut Bundesland Preis Anzahl Anleger Steuereinnahmen
2000 Dr. Batiner Liechtenstein 0 400 15 Mio. €
2007 LGT NRW 4,5 Mio. 800 200 Mio. €
2010 Credit Suisse NRW 2,5 Mio. € 1.000 900 Mio. €
Juni 2010 Schweiz Niedersachsen 185.000,00 € 35.000 500 Mio. €
August 2010 Baden Württemberg abgelehnt
Oktober 2010 Julius Bär 1,4 Mio. €
Oktober 2011 HSBC, Lux NRW 3.000
Juli 2012 Coutts, Zürich und Royal Bank of Scottland NRW 3,5 Mio. €
August 2012, 2  CDs UBS NRW 3,5 mio. €
April 2013 Rh-Pf 4 Mio € 40.000
2016, insgesamt  11 CDs gekauft NRW
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Steuerhinterziehung auch im Beitreibungsverfahren (Vollstreckung des Finanzamts)

Beispiele einer Steuerhinterziehung im Beitreibungsverfahren: Der Steuerpflichtige täuscht unter falschen Angaben zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen eine Stundungsbedürftigkeit vor. Oder er beantragt den Erlass von Säumniszuschlägen wegen damaliger angeblicher Zahlungsunfähigkeit nach § 227, 240 AO, obwohl er zahlungsfähig gewesen war.

Auch wenn sich die Angaben des Steuerpflichtigen über seine Vermögensverhältnisse auf Veranlagungszeiträume beziehen, welche hinsichtlich des Festsetzungsverfahrens bereits Gegenstand einer Verurteilung waren, steht einer Strafverfolgung nach Ansicht des BGH nicht das Verfahrenshindernis des Strafklageverbrauchs (§ 264 StPO, Art. 103 Abs. 3 GG) entgegen.

Obgleich das Beitreibungsverfahren Teil des Besteuerungsverfahrens ist, führt dies nicht dazu, dass unrichtige Angaben in verschiedenen Verfahrensabschnitten zu einem einheitlichen Lebensvorgang im Sinne des § 264 StPO gehören würden und deshalb Teile derselben Tat im prozessualen Sinne wären.

Eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung im Festsetzungsverfahren löst im Hinblick auf Taten im Beitreibungsverfahren keinen Strafklageverbrauch aus

Angesichts der neuen unrichtigen Angaben zu den Vermögensverhältnissen und damit neuem Tatunrecht liegt auch keine mitbestrafte Nachtat vor

Demgegenüber liegt nach der Rechtsprechung eine prozessuale Tat vor, wenn nach Abgabe einer falschen Steuererklärung gegenüber der Veranlagungsstelle im Festsetzungsverfahren das Ziel der Steuerverkürzung in der Folge im Rechtsmittelverfahren weiter verfolgt wird (BGH v. 19.12.1997 – 5 StR 569/96)

Steuerhinterziehung durch Unterlassen

Eine Steuerhinterziehung nach § 370 AO kann durch vorsätzliches Tun (falsche Angaben) oder durch vorsätzliches pflichtwidriges Unterlassen erfolgen (= keine Steueranmeldungen oder Steuererklärungen trotz Fälligkeit abgeben und wissend, dass dadurch die Festsetzungen von Steuerzahlungen nicht oder verspätet erfolgen). Bedingter Vorsatz (=billigendes Inkaufnehmen der Tatbestandsverletzung) genügt.

BGH v. 9.4.2013 – 1 StR 586/12; BGH v. 14.10.2015 – 1 StR 521/14:

Der Unterlassungstatbestand der Steuerhinterziehung ist ein „Jedermannsdelikt“, dass keine Beschränkung auf eine bestimmte Tätergruppe enthält.

Täter (auch Mittäter) einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen kann aber nur derjenige sein, der selbst zur Aufklärung steuerlicher Tatsachen besonders verpflichtet ist.

Das Merkmal „pflichtwidrig“ bezieht sich allein auf das Verhalten des Täters (bei dem es sich nicht um den Steuerpflichtigen handeln muss). Damit kommt eine Zurechnung fremder Pflichtverletzungen auch dann nicht in Betracht, wenn sonst nach den allgemeinen Grundsätzen Mittäterschaft vorliegen würde.

Eine Erklärungspflicht kann auch den Hintermann treffen, wenn er die Stellung eines Verfügungsberechtigten nach § 35 AO hat. Verfügungsberechtigter in diesem Sinne ist jeder, der nach dem Gesamtbild der Verhältnisse rechtlich und wirtschaftlich über Mittel, die einem anderen zuzurechnen sind, verfügen kann und als solcher nach außen auftritt.

Falsche Rechtsansichten und abweichende Rechtsansichten können Steuerhinterziehung sein?

BGH v. 10.11.1999 – 5 StR 221/99:

„Dem Steuerpflichtigen steht es frei, jeweils die ihm günstigste Gestaltung zu wählen. Er macht jedenfalls dann keine unrichtigen Angaben i.S. von § 370 I Nr. 1 AO, wenn er offen oder verdeckt eine ihm günstige unzutreffende Rechtsansicht vertritt, aber die steuerlich erheblichen Tatsachen richtig und vollständig vorträgt und es dem Finanzamt dadurch ermöglicht, die Steuer unter abweichender rechtlicher Beurteilung zutreffend festzusetzen.“

„Da sich hinter den mitgeteilten Zahlen die verschiedensten Sachverhalte verbergen können, die für das Finanzamt nicht erkennbar sind, besteht zumindest eine Offenbarungspflicht für diejenigen Sachverhaltselemente, deren rechtliche Relevanz objektiv zweifelhaft ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die von dem Steuerpflichtigen vertretene Auffassung über die Auslegung von Rechtsbegriffen oder die Subsumtion bestimmter Tatsachen von der Rechtsprechung, Richtlinien der Finanzverwaltung oder der regelmäßigen Veranlagungspraxis abweicht.“

Das Bundesverfassungsgericht dazu:

BVerfG v. 16.6.2011 – 2 BvR 542/09:

„Unabhängig davon ist es Steuerpflichtigen regelmäßig möglich und zumutbar, aus ihrer Sicht bestehende offene Rechtsfragen nach Aufdeckung des vollständigen und wahren Sachverhalts im Besteuerungsverfahren zu klären, statt auf das Bestehen einer vermeintlichen Strafbarkeitslücke zu hoffen.“

(ebenso: BVerfG v. 29.4.2010 – 2 BvR 871/04; BGH v. 8.9.2011 – 1 StR 38/11)

Schätzung der hinterzogenen Besteuerungsgrundlagen auch im Steuerstrafverfahren?

Ja!

BGH v. 20.12.2016 – 1 StR 505/16

Auch in Steuerstrafverfahren ist die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen zulässig, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige einen Besteuerungsbestand erfüllt hat, die tatsächlichen Verhältnisse, die für die Bemessung der Steuer maßgebend sind, aber ungewiss sind.

Beispiel: Es steht fest, dass die Buchführung des Steuerpflichtigen wegen unvollständig erfasster Betriebseinnahmen unvollständig ist.

Bei der Schätzung müssen die vom Besteuerungsverfahren abweichenden Verfahrensgrundsätze des Strafprozesses (§ 261 StPO) eingehalten werden. Erforderlichenfalls hat der Tatrichter einen als erwiesen angesehenen Mindestschuldumfang festzustellen.

Ist die konkrete Berechnung der Umsätze und Gewinne nicht möglich und kommen ausgehend von der vorhandenen Tatsachenbasis andere Schätzungsmethoden nicht in Betracht, darf das Tatgericht die Besteuerungsgrundlagen gestützt auf die Richtwerte für Rohgewinnaufschläge aus der Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen pauschal schätzen. Allerdings müssen auch bei dieser Schätzungsmethode die festgestellten Umstände des Einzelfalls in den Blick genommen werden. (Kritisch zur Richtsatzsammlung: Burkhard, BBP 2017, 14 ff.)

Das Tatgericht muss sich bei der Beweiswürdigung zum Rohgewinnaufschlag zwar einerseits nicht zugunsten eines Angeklagten an den unteren Werten der in der Richtsatzsammlung genannten Spannen orientieren, wenn sich Anhaltspunkte für eine positive Ertragslage ergeben.

Soweit Zweifel verbleiben, darf das Tatgericht aber andererseits auch nicht ohne Weiteres einen als wahrscheinlich angesehenen Wert aus der Richtsatzsammlung zugrunde legen. Es muss vielmehr einen als erwiesen angesehenen Mindestschuldumfang feststellen.

Auch bei Zugrundelegung des Mittelsatzes aus der amtlichen Richtsatzsammlung muss das Tatgericht in den Urteilsgründen ausführen, aufgrund welcher Anknüpfungstatsachen es davon überzeugt ist, dass es sich um einen Betrieb handelt, bei dem jedenfalls dieser Mittelsatz erreicht ist. Auch die Richtsatzsammlung geht davon aus, dass ein Abweichen durch besondere betriebliche oder persönliche Verhältnisse begründet sein kann.

Da die in der Richtsatzsammlung enthaltenen Rohgewinnaufschläge auf bundesweite Prüfungsergebnisse zurückgehen, muss das Tatgericht bei Anwendung der Richtsatzsammlung für die Schätzung im Strafprozess erkennen lassen, dass es die örtlichen Verhältnisse und – soweit vorhanden – die Besonderheiten des Gewerbebetriebes in den Blick genommen hat.

Die Richtsatzsammlung ist nach der hier vertretenen Auffassung völlig unbrauchbar und kann keine Grundlage für eine Schätzung sein – weder im Steuerrecht und erst Recht nicht im Steuerstrafrecht (vgl. Burkhard, BBP 2017, 14 ff).