Die tatsächliche Verständigung
- Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist in Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung eine tatsächliche Verständigung über die tatsächlichen Merkmale, die der Besteuerung zugrunde zu legen sind, grundsätzlich zulässig (BFH-Urteile vom 12. August 1999 XI R 27/98, BFH/NV 2000, 537, und vom 8. Oktober 2008 I R 63/07, BFHE 223, 194, BStBl II 2009, 121). Voraussetzung einer solchen tatsächlichen Verständigung ist u.a., dass sie sich auf Sachverhaltsfragen und nicht auf Rechtsfragen bezieht, die Sachverhaltsermittlung erschwert ist und die tatsächliche Verständigung nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führt (vgl. BFH-Urteile vom 7. Juli 2004 X R 24/03, BFHE 206, 292, BStBl II 2004, 975, und in BFHE 223, 194, BStBl II 2009, 121; zur Rechtsfolge der Unwirksamkeit einer zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führenden Verständigung BFH-Beschluss vom 21. September 2015 X B 58/15, BFH/NV 2016, 48). Dass die tatsächliche Verständigung mittelbar auch den Tatbestandsbereich einer Norm betrifft, ist indes unschädlich (BFH-Urteil in BFHE 223, 194, BStBl II 2009, 121, m.w.N., sowie BFH-Beschluss vom 22. August 2012 I B 86/11, I B 87/11, BFH/NV 2013, 6). Ob eine tatsächliche Verständigung zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führt, ist im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller objektiven Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (BFH-Beschluss vom 26. Oktober 2005 X B 41/05, BFH/NV 2006, 243).
- An eine zulässige und wirksam zustande gekommene tatsächliche Verständigung sind die Beteiligten nach dem Grundsatz von Treu und Glauben grundsätzlich gebunden, auch wenn die Verständigung nicht sämtliche schwer aufklärbaren Umstände des Besteuerungssachverhalts umfasst (dazu unter a). Die gegenseitige Bindung ist dabei jeder tatsächlichen Verständigung immanent, ohne dass es einer ausdrücklichen Erklärung der Beteiligten bedarf (BFH-Urteile vom 31. Juli 1996 XI R 78/95, BFHE 181, 103, BStBl II 1996, 625, und in BFH/NV 2000, 537). Die Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung kann jedoch ausnahmsweise (nachträglich) entfallen, wenn einem der Beteiligten nach den Grundsätzen von dem Fehlen oder dem Wegfall der Geschäftsgrundlage ein Festhalten an dem vereinbarten nicht (mehr) zuzumuten ist (dazu unter b).
a) Zweck des Instituts der tatsächlichen Verständigung ist es, zu jedem Zeitpunkt des Besteuerungsverfahrens hinsichtlich bestimmter Sachverhalte, deren Klärung schwierig, aber zur Festsetzung der Steuer notwendig ist, den möglichst zutreffenden Besteuerungssachverhalt i.S. des § 88 der Abgabenordnung einvernehmlich festzulegen. Dieser Zweck würde unterlaufen, wenn die Beteiligten zu einem späteren Zeitpunkt von den abgegebenen Erklärungen (einseitig) wieder abrücken könnten, weil sie vermeintliche Nachteile der Einigung festzustellen glauben (BFH-Urteil in BFH/NV 2000, 537). Eine tatsächliche Verständigung im Steuerfestsetzungsverfahren ist daher nicht schon deshalb unwirksam, weil sie zu einer von einem Beteiligten nicht vorhergesehenen Besteuerungsfolge führt (BFH-Urteil in BFHE 223, 194, BStBl II 2009, 121). Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn dadurch die vor der Verständigung offengelegten Beweggründe des Beteiligten zum Abschluss der Verständigung entwertet werden.
b) Die Bindung der Beteiligten an die Vereinbarungen einer tatsächlichen Verständigung kann nach den Grundsätzen über das Fehlen oder den Wegfall der Geschäftsgrundlage jedoch ausnahmsweise (nachträglich) entfallen, wenn ihr eine (irrtümlich) angenommene gemeinsame Geschäftsgrundlage von vornherein gefehlt hat oder wenn sie nachträglich weggefallen ist und einem der Beteiligten ein Festhalten an dem Vereinbarten nicht (mehr) zuzumuten ist.
aa) die Anwendbarkeit dieser Grundsätze auf die tatsächliche Verständigung hat der BFH zuletzt grundsätzlich anerkannt (vgl. BFH-Urteil vom 1. September 2009 VIII R 78/06, BFH/NV 2010, 593; offengelassen noch im BFH-Urteil in BFHE 223, 194, BStBl II 2009, 121). Auch die Finanzverwaltung bejaht dies ausdrücklich (vgl. Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 30. Juli 2008, BStBl I 2008, 831, unter Tz. 8.2.), ebenso ein Teil des Schrifttums (Frotscher in Schwarz/Pahlke, AO, § 162 Rz 202; Koenig/Wünsch, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 88 Rz 55; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, vor § 118 AO Rz 33; Mösbauer, Betriebs-Berater 2003, 1037, 1041; Bruschke, Deutsches Steuerecht –DStR– 2010, 2611, 2614; Krüger, Deutsche Steuerzeitung 2015, 478, 484; Hartmann, Neue Wirtschafts-Briefe 2016, 1014, 1019).