Änderungsmöglichkeiten nach Gesetz und nach Auffassung des BMF nach Abschnitt 122 I 2 AEAO
Nach Paragraf 173 Abs. 1 Nummer 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen, soweit die Bescheide nicht ohnehin einspruchsbefangen sind oder unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehen oder insoweit punktuell vorläufig sind und die Regelfestsetzungsverjährungsfrist von 4 Jahren noch nicht abgelaufen ist.
Voraussetzung für die Änderbarkeit der Bescheide ist, dass die Festsetzungsfrist im Zeitpunkt der Änderung noch nicht abgelaufen ist, Paragraf 169 Absatz ein Satz 1 AO. Die Regelfestsetzungsverjährungsfrist beträgt 4 Jahre. Bei einer leichtfertigen Steuerverkürzung beträgt die steuerliche Festsetzungsverjährungsfrist 5 Jahre und bei der vorsätzlichen Steuerhinterziehung beträgt die steuerliche Festsetzungsverjährungsfrist 10 Jahre, Paragraf 169 Abs. 2 Satz 2 AO.
Sind diese Fristen jeweils plus der Anlaufhemmung von 1-3 Jahren nach § 170 AO bereits abgelaufen, ist eine Änderung nicht mehr möglich, gleichgültig ob insoweit dann neue Tatsachen oder Beweismittel im Sinn des § 173 I Nr. 1 AO vorliegen.
Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann (ständige Rechtsprechung, z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs —BFH— vom 19. Februar 2013 IX R 24/12, BFHE 240, 265, BStBl II 2013, 484, m.w.N.; BFH-Beschluss vom 26. Juni 2014 VI R 94/13, BFHE 246, 182, BStBl II 2014, 864).
Hilfstatsachen dürfen dabei nur herangezogen werden, wenn sie einen sicheren Schluss auf das Vorliegen der Haupttatsache zulassen; bloße Vermutungen oder Wahrscheinlichkeiten reichen hierfür nicht aus (BFH-Urteil vom 6. Dezember 1994 IX R 11/91, BFHE 176, 221, BStBl II 1995, 192, unter 1.; BFH-Beschluss vom 19. Oktober 2011 X R 29/10, BFH/NV 2012, 227). Bloße Vermutungen oder Spekulationen oder Wahrscheinlichkeiten reichen hierfür nicht aus.
Es ist also eigentlich gar nicht so einfach einen bestandskräftigen Bescheid nachträglich noch ändern zu wollen. Erst recht genügt nicht eine andere Beurteilung desselben Sachverhaltes nach einem Sachbearbeiterwechsel. Es müssen neue Tatsachen oder neue Beweismittel vorliegen.
Zweifel und abweichende Auffassungen aber auch Unplausibilitäten genügen danach für eine Änderung nicht. Denn auch Unwahrscheinlichkeiten oder Unplausibilitäten sind keine Tatsachen oder Beweismittel. Es sind Umstände, die einen Sachverhalt als nicht sicher oder als unklar erscheinen lassen können – die Zweifel erwecken können – mehr auch nicht. Das genügt nach der Gesetzeslage nicht für eine Änderung der Bescheide.
Das BMF will die Beweiskraft der Buchführung nach Paragraf 158 AO schon aufgrund von Unwahrscheinlichkeiten zu Fall bringen und dadurch die Schätzungsmöglichkeit eröffnen. Das BMF schreibt insoweit in Abschnitt 122 AEAO (das ist der Anwendungserlass zu Paragraf 158 AO) wie folgt wörtlich, wobei nach § 158 AO die Buchführung und die sonstigen Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen der Besteuerung grundsätzlich zugrunde zu legen sind:
„Die Vorschrift (gemeint ist § 158 AO) enthält eine gesetzliche Vermutung. Sie verliert ihre Wirksamkeit mit der Folge der Schätzungsnotwendigkeit nach § 162 AO , wenn es nach Verprobung usw. unwahrscheinlich ist, dass das ausgewiesene Ergebnis mit den tatsächlichen Verhältnissen übereinstimmt. Für die formelle Ordnungsmäßigkeit der Buchführung ist das Gesamtbild aller Umstände im Einzelfall maßgebend.“
Damit sagt das BMF zweierlei:
ist ein Buchführungsergebnis nach Verprobungen wahrscheinlich nicht richtig, soll geschätzt werden dürfen. Der Hintergrund ist, dass eine Hinterziehung schwer nachweisbar ist und daher Auffälligkeiten, Unklarheiten oder scheinbare Widersprüche zu einer Verwerfung der Buchführung führen können sollen.
Damit aber wird die wesentlich höhere Hürde, dass die Buchführung falsch sein muss, bevor sie verworfen wird, aufgeweicht und lediglich dann, wenn das Ergebnis nach Verprobungen usw. unwahrscheinlich ist, ein anderes Ergebnis stattdessen der Besteuerung zugrunde gelegt werden darf. Dabei ist schon die Formulierung „Verprobungen usw.“ völlig schwammig. Was sollen mit „usw.“gemeint sein? Was alles soll also neben Verprobungen eine Buchführung zu Fall bringen können?
Und dann geht es mit den „Ungenauigkeiten“ weiter: maßgebend soll das Gesamtbild aller Umstände im Einzelfall sein. Immer dann, wenn man nicht weiterweiß, man eine Pseudobegründung und behauptet, das Gesamtbild aller Umstände würde dies rechtfertigen. Was in diesem Gesamtbild wie aber eingestellt werden muss und was wie gewichtet werden soll, ist damit gar nicht gesagt.
Nehmen Sie folgendes Beispiel:
da ist ein Steuerberater, der seine abrechenbare Arbeit optimieren möchte. Er kauft sich im Internet ein Coaching Programm, das verspricht, dass er seine Arbeitszeit besser kontrollieren, effektiver gestalten und optimieren könne. Er nutzt dieses Programm über mehrere Wochen und schreibt jede Minute abrechenbare Arbeitszeit auf. Ehrgeizig wie er ist, versucht er seine abrechenbaren Zeiten zu steigern. In der 1. Woche hatte er durchschnittlich 6 Stunden abrechenbare Zeiten.
In der 2. Woche sind es schon 7 Stunden und in der 3. Woche 7,5 Stunden durchschnittlich täglich. So steigert der Steuerberater über mehrere Wochen hin seine abrechenbare Zeiten auf 8,75 Stunden täglich durchschnittlich. Zugegeben, so manchmal betrügt er sich auch ein bisschen selbst und schön die Zeiten etwas. Nach rund dreieinhalb Monaten ist er genervt und lässt das Programm ungenutzt weiter auf dem PC schlummern. Für ihn ist das Datenmüll.
So ganz echt waren die Zahlen zum Schluss jedenfalls nicht mehr. Aber wie dem auch sei: das Programm geht in Vergessenheit. 2 Jahre später kommt die BP. Zufällig findet diese dieses Coaching Programm und analysiert die Zahlen. Die BP stellt fest, dass zuletzt 8,75 Stunden täglich durchschnittlich abrechenbar waren. Tatsächlich sind aber nur durchschnittlich 6 Stunden gegenüber den Mandanten abgerechnet. Damit bleiben etwa 2,75 Stunden täglich und berechnet. Dies sind je nach Anzahl der Arbeitstage pro Monat ca. 55-57,75 Stunden nicht abgerechnete Arbeitszeiten.
Bei einem Stundensatz von 200 € netto sind das immerhin 11.550 € monatlich netto, die offenbar nicht offiziell abgerechnet werden. Im Jahr sind das 138.600 € netto + 19 % Umsatzsteuer, also 26.334 € Umsatzsteuer. Aufgrund dieser Nachkalkulation hält der Prüfer die Einnahmeerfassung des Steuerberaters für unplausibel und nach diesen Verprobungen für unwahrscheinlich. Zuschätzungen von ca. 130-140.000 € netto pro Jahr stellt er sich vor und ein entsprechendes Steuerstrafverfahren müsse er leider bei so hohen Mehrergebnissen pflichtgemäß einleiten.
Da bliebe ihm nichts anderes übrig. Da könne er kein Auge mehr zudrücken, so gerne er das auch würde. Er hält sich ja nur an seine Dienstanweisungen, genauer gesagt an Abschnitt 122 Abs. 1 Satz 2 AEAO.
Er legt danach:
Nach dem Gesamtbild der Verhältnisse wäre die Buchführung wohl offensichtlich nicht ordnungsmäßig, weil nicht alle Einnahmen erfasst wären. Dies belege die Auswertung des Coaching-Programms?
Oder ist es nicht vielmehr so, dass das Mehrergebnis tatsächlich das Finanzamt beweisen muss und aus dem Coachingprogramm eben nicht kontinuierlich die höheren abrechenbaren Zeiten ableitbar sind? Muss nicht die angebliche Hinterziehung das Finanzamt beweisen? Und wo wären denn angeblich die Mandanten, die diese mehr Zeiten bezahlt hätten? Gibt es hierfür entsprechende Akten, die nicht abgerechnet sind? Oder haben die Bestandsmandanten Teilleistungen schwarz bezahlt? Ließe sich das alles nicht genau verifizieren – oder falsifizieren? Genügt es denn für die Annahme des Mehrergebnisses, dass der Prüfer auf das Coachingprogramm verweist?
Und: wenn man von verlängerten Festsetzungsverjährungsfristen ausgeht, dann muss für jeden Teil der hinterzogen sein soll, die Hinterziehung dargelegt und bewiesen werden, für den die verlängerte Festsetzungsfrist gelten soll. Der BFH formuliert das wörtlich so:
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„Allerdings wird das Vorliegen einer Steuerhinterziehung nach dem Wortlaut des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO („soweit“) für jeden einzelnen Teilbetrag des Steueranspruchs getrennt festzustellen sein.“
- Quelle: BFH, Urteil vom 19. Oktober 2011 – X R 65/09 –, Rn 87, BFHE 235, 304, BStBl II 2012, 345
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