Im Schlaf, da hatte ich einen Traum. Da waberte mir in einem Gerichtssaal stehend der Gedanke durch den Kopf, es könne oder müsse eine „Verfahrenskontrolle durch Verteidigung“ geben …
Ich drehte mich im Halbschlaf auf die andere Seite und dachte, ich bin ein Rebell. Ich hinterfrage Normen. Aber nicht nur ich. Viele andere auch. Das ist wohl die Grundaufgabe eines Juristen. Ich hinterfrage Althergebrachtes. So schön und bequem Traditionen einerseits sind, gehören sie vielleicht primär zu Weihnachten oder zu Silvester, wegen mir auch zur Geburtstagsfeier. Auch in mancher Beziehung mag es Traditionen geben. Es gibt sie natürlich auch im Gerichtssaal und auch im Strafverfahren oder im Besteuerungsverfahren. Gleichwohl müssen sie stets und immer wieder aufs Neue hinterfragt werden. Unsere Kultur verändert sich. Unser Rechtsverständnis auch. Gesetze und Verordnungen auch. Demokratie und Rechtsstaat sind nichts statisches, sondern sich etwas Verformendes, sich Bewegendes. Und das ist gut so. Denn auch wir und unsere Ansichten verändern sich. Würde Recht statisch bleiben, wäre es bald ein Korsett, das nicht mehr passt. Alles – Recht, Kultur, Rechtsstaat, Normen und auch wir selbst – kann sich zum Vorteil als auch zum Nachteil verwandeln. Alles ist verletzlich. Aber das Gute muss bewahrt werden. Traditionen sind etwas Statisches. Sie passen daher nur bedingt zum Rechtsstaat und auch nur bedingt zur Demokratie – nur zeitweise und dann müssen sie wieder angepasst werden. Immer dann, wenn wir Menschen zu Entscheidern über andere erheben, wenn wir ganz normale Menschen mit Macht ausstatten, ist dies gefährlich. Macht kann missbraucht werden. Absichtlich oder unabsichtlich. Fehlurteile gehören leider zur Tagesordnung bei jedem – leider auch bei Richtern. Denn keiner ist unfehlbar. Daher bedarf es stets besonderer Vorsicht und kritischer Überwachung jedes Menschen, der eigentlich nichts besonderes ist, dem aber Macht vorübergehend gegeben ist. Manche können damit umgehen, andere eben nicht. So ist das eines der größten Probleme in einem Rechtsstaat, warum einzelne emporgehoben werden auf einen Podest, der ihnen Macht gibt und der sie scheinbar zu besonders guten, klugen und immer richtig die Macht ausübenden Menschen werden lässt… dabei sind es doch die gleichen fehlbaren Menschen wie zuvor. Mit einer Ernennungsurkunde zum Beamten oder Richter wird man doch nicht klüger, verständiger, verständnisvoller, einsichtiger usw. Und wenn mann ohne in der Wirtschaft, in der Praxis gewesen zu sein, gleich nach dem Studium in eine Behörde oder in einen Richtersessel wechselt, wird man doch nicht welterfahrener oder automatisch praxisnäher …Manche werden überheblich, eingebildet, faul und kommen ihren Dienstpflichten nicht ordnungsgemäß nach. Sie an ihre Dienstpflichten zu erinnern, nehmen manche fast als Hochverrat. Dabei ist es unser aller Ziel, unseren Rechtsstaat zu pflegen, zu fördern, nicht den einzelnen, der auf dem Thron sitzt, sondern die Rechtskultur voranzubringen. Dies wirft die Frage auf, ob es tatsächlich Richter auf Lebenszeit geben darf. Zu verkrustet erscheinen die Hierarchien und das Ansehen und der Podest, der unter einem solchen ganz normalen (manchmal) Menschen wächst … oder? „Was meinen Sie?“, sagte ich laut in meinem Traum.
Verkrustungen – oder wie wir es bei der DDR nannten – Seilschaften – aufzubrechen muss oberste Pflicht aller in einem Rechtsstaat tätigen Menschen sein. Im Dritten Reich haben wir erlebt, wie schlimm Verkrustungen und Seilschaften werden können. Welch falsche Wege beschritten werden können. Je kritischer und wachsamer wir alle sind, umso eher und besser lebt unser Rechtsstaat. Für den trete ich ein. Diesen zu schützen und zu wahren halte ich nicht nur für meine Dienstpflicht, sondern dies entspricht meiner Überzeugung.
Sommer schreibt in effektive Strafverteidigung im ersten Kapitel in Rn. 93 wie folgt: „wie die Institutionalisierung der Kontrolle staatlicher Macht in einem Rückstand funktioniert, ist unserer Kultur spätestens seit Montesquieu geläufig. Gewaltenteilung, Checks & Balances, fordern organisatorische Elemente, um a priori einseitige Machtausübung zu beschränken.“ Sieht man, dass die Staatsanwaltschaften, die bei den Gerichten angesiedelt sind und Richter und Staatsanwälte im Werdegang ab und zu die Ämter tauschen, dass Anwälte ausgeschlossen sind und nicht in den Gerichtsgebäuden domizilieren, nicht am gemeinsamen Mittagstisch mit Richtern und Staatsanwälten teilnehmen dürfen, keine übliche Durchlässigkeit zwischen Rechtsanwälten und Richtern oder Staatsanwälten zu erkennen ist, dies allenfalls mal die große Ausnahme ist, auch Richter oder Staatsanwälte nach einigen Jahren ihrer Tätigkeit nicht in die freie Wirtschaft wechseln müssen um Verkrustungen zu durchbrechen, kann man ins Zweifeln geraten, ob die Gewaltenteilung gelebte Praxis ist und so funktioniert, wie sie funktionieren sollte.
Sommer schreibt zu Recht weiter, hörte im Traum ich mich sagen: „der Wert eines solchen Gegenpols liegt gerade in der konträren Ausrichtung – unabhängig von der individuellen Sinnhaftigkeit in der Ausübung der Gegenmacht. Die Behinderung der Machtausübung ist notwendiger Teil ihrer Kontrolle und Beherrschung. Der genuine Staatsmacht umsetzende Richter muss daher über den Tellerrand seiner Behinderung durch enge formale Grenzen hinaus erkennen, dass die Beschränkung der Effektivität seines machtausübenden Tuns auf einem wichtigen demokratischen Prinzip beruht. Kontrolle und Behinderung sind der Gesellschaft wichtiger als die ungehinderte von einseitiger und unkontrollierter Machtfülle getragene richterliche Entscheidung.“ (Sommer, effektive Strafverteidigung, 3. Auflage, Rn 93). Warum aber erhält dann der Verteidiger als letzter erst das Fragerecht? Warum darf er nicht stets dazwischenhaken? Warum hat er kein Vetorecht bei bestimmten Entscheidungen und verfahrenslenkenden Maßnahmen des Gerichts? Warum kann das Gericht nahezu alles ablehnen und den Anwalt bzw. dessen Mandanten auf später zu vertrösten – nämlich auf die Möglichkeit sein Recht oder sein Glück in der nächsten Instanz zu suchen …?
In manchem Gerichtssaal wird der Verteidiger nur als Störer empfunden. Schweißgebadet drehte ich mich auf die andere Seite. Doch das half nicht. Anträge nerven und behindern die rasche Verurteilung oder Klageabweisung, so hat schon so mancher gedacht oder empfunden, wie er mir sagte, hörte ich jemanden hinter mir stehend in meinem Traum sagend. Ich drehte mich um, da standen viele, nur wer hatte was gesagt? Einstellungsanträge oder gar das Zitieren von Verfassungsverstößen sorgt häufig zu einem Stirnrunzeln – oder anderen Abwehrreaktionen – eher selten zu dem Erfolg. Ob Staatsanwälte und Richter die besseren Juristen sind, die alles besser wissen oder ob es an den Verkrustungen der Macht liegt? Das überhaupt Richter oder Staatsanwälte auf die Idee kommen, Beweisanträge könnten zur Prozessverschleppung oder zur Behinderung eines Verfahrens gestellt werden, ist mir fremd. Das ist doch der Kampf ums Recht und der Kampf um die Wahrheitsfindung. Wie kann da ein Beweisantrag jemals verspätet sein oder unzulässig sein? Welch abwegige Gedankengänge! Wenn wir auf der Suche nach der Wahrheit sind und ein Prozess sich auf verschiedene Aspekte fokussiert, ist es völlig normal, dass man natürlich je nach Verfahrensstadium und gerade aufkommende Thematik den Fokus auf die hierzu gehörenden Aspekte konzentriert. bei diesen Detailaspekten ist man in der Diskussion. Wie weltfremd und abgehoben wäre es, zu einem völlig anderen, nicht passenden Thema jetzt schon hier Beweisanträge stellen zu müssen oder zu sollen. Die würden damit in den Kontext passen. Das ist etwa so, als wenn man bei einem 500-seitigen Buch mit 26 Kapiteln schon im ersten Kapitel erwarten würde, dass die Schlussvorträge und die Anträge zu allen Kapiteln und Erläuterungen zu allen Kapiteln behandelt werden würden. Das erste Kapitel würde aufgebläht, nicht zum Thema gehörende Aspekte vertieft und die anderen 25 Kapitel könnten dann entfallen. Struktur und Gliederung und würden darunter leiden, ebenso eine vernünftige Sachdiskussion. Trotzdem kommt es immer wieder auf, wenn Beweisanträge dann erst am fünften, achten oder 15. Verhandlungstag zu einem bestimmten dann erst aufkommenden Thema oder gegebenenfalls zu völlig neuen Aspekten, die vorher nicht erörtert wurden, gestellt werden, andere unlautere Motive an Verteidiger unterstellt werden. Muss es aber nicht stets nicht nur Recht, sondern Pflicht eines Verteidigers sein, auch neu gewonnene Aspekte, sei es während der Hauptverhandlung oder von den Mandanten neu berichtet oder erstmals so verstanden und hervorgebracht, vorzubringen? Muss der Verteidiger dies rechtfertigen oder entschuldigen oder ist es nicht vielmehr das Selbstverständnis der Rollenverteilung, dass natürlich stets der Finger in die Wunde gelegt wird, stets auf Unklarheiten besonders hingedeutet wird, die einer Verurteilung entgegenstehen und Schutzrechte für den Beschuldigten stets vorgebracht werden dürfen – notfalls auch noch erst im Schlussplädoyer? und wäre es nicht eigentlich auch Aufgabe des Gerichts, nicht alles Tasten abzulegen, was die Staatsanwaltschaft vorträgt, sondern müsste das Gericht nicht selbst auf der Staatsanwaltschaft kritische Fragen stellen? Müsste nicht auch das Gericht aufbauen und die Frage stellen stimmt das denn alles was die Staatsanwaltschaft vorträgt? Wäre es nicht Aufgabe des Gerichts, dass eben gerade nicht der Ankläger ist oder der Behördenvertreter ist, noch in der letzten Sekunde vor dem Urteilsabfassung mal in die Rolle des Anwalts oder das Beschuldigten bzw. des steuerlichen Klägers zu schlüpfen und aus dessen Sicht die Dinge zu betrachten?
Und gehörte es nicht eigentlich auch zu der Aufgabe des Staatsanwalts oder des Behördenvertreters mal die Rolle des Beschuldigten bzw. des Steuerpflichtigen zu durchdenken und aus dessen sich die Dinge zu versuchen zu sehen? Ich blinzelte, stöhnte und drehte mich noch mal um. Aber der Traum ging nicht weg. Er ging wie folgt weiter.
Vielleicht würden die Verkrustungen im Gerichtssaal aufbrechen, sagte jemand, wenn man den Rollentausch nicht nur gedanklich sondern tatsächlich vollziehen würde: was wäre wenn wir unsere Rituale über das Plädoyer verändern würden? Wenn der Behördenvertreter vom Finanzamt nicht immer nur monoton Klageabweisung beantragen würde, sondern mal die Rolle des steuerlichen Vertreters übernehmen müsste und plädieren müsste? Was wäre, wenn der Anwalt mal in die Rolle des Finanzamtsvertreters oder des Richters schlüpfen müsste und umgekehrt? Stellen wir uns einmal ein System vor, dass im Uhrzeigersinn verlangt, dass jeder der Prozessbeteiligten einen Platz nach links rutscht. Hat dann jede plädiert, rutscht jeder einen weiteren Platz nach links. Nach einer kurzen Unterbrechung und nach Anhörung jedes Plädoyers rutschen alle dann ein letztes Mal einen Platz weiter, sodass jeder mal in der Rolle des Staatsanwalts, des Rechtsanwalts und des Richters im Strafprozess plädiert hat bzw. auf den Steuerprozess bezogen jeder mal aus Sicht des Gerichts, aus Sicht der Finanzverwaltung und aus Sicht des Steuerpflichtigen plädiert hat. Würde dieses System nicht notgedrungen zu einer Verbesserung und Durchdringung der Aspekte führen? Würden Missverständnisse über Sachverhalt und über rechtliche Aspekte damit nicht im Vorfeld schonungslos aufgedeckt? Der Gedanke klingt nach einer Aufblähung der Verfahrensdauer. Allerdings stelle ich mir nicht vor, stundenlang die Rollen getauscht werden müssten. Das hängt natürlich vom Umfang des Verfahrens ab. Aber für kleine und mittlere Verfahren würde vielleicht schon Platz Wechsel für eine Viertelstunde oder 20 Minuten die Sichtweisen der jeweils anderen Prozessbeteiligten mehr als deutlich durchdringen lassen. Jeder müsste mal aus Sicht der jeweiligen Prozessstation die Sache beleuchten und erörtern. vielleicht, so mögen die Kritiker mir entgegenhalten, würde dies zu einer Verlängerung des einzelnen Verfahrens dauern. Es würde aber nach meiner Überzeugung zu einer deutlichen Verbesserung der Durchdringung der Rechtsmaterie und des Sachverhaltes führen und es wurde vor allem zu einem wechselseitigen Verständnis der Prozessbeteiligten führen. Der mehr Gewinn wäre meines Erachtens phänomenal. Darüber hinaus könnten möglicherweise dadurch Berufung oder Revisionsverfahren bzw. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren vermieden werden, weil der Prozessstoff intensiver, detaillierter und von allen Perspektiven besser durchleuchtet durchdrungen wird.
Und so mancher Podest, den mancher unter sich glaubt, würde damit vielleicht zerbrechen. Zum Wohle der Rechtskultur und zum Wohle der Wahrheitsfindung und besserer und gerechter Entscheidungen.
Die Überschrift „Verfahrenskontrolle durch Verteidigung“ habe ich auch bei Herrn Sommer entlehnt. Ich weiß dabei gar nicht, ob ich ihm zustimmen soll, dass die Verfahrenskontrolle durch die Verteidigung gemacht werden müsse bzw. dies der Verteidigung oberste Pflicht wäre. Es ist auch ihre Pflicht – aber doch nicht nur – oder? Ist es nicht vielmehr Pflicht auch der Staatsanwaltschaft und des Gerichts, stets die Verfahrenskontrolle durchzuführen und immer wieder alles zu hinterfragen und jede Prozesshandlung – auch die eigene – mit dem einfachen Worten: „stimmt das dann? Ist das denn richtig?“ zu hinterfragen? Muss es nicht unser aller Ziel sein, den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung zu pflegen und mit größter Wachsamkeit und Wirksamkeit die sehr hohe Rechtskultur, die wir haben, aufrechtzuerhalten? Gehört dazu nicht denknotwendig auch, dass Verfahrenskontrollen durch Gericht und Staatsanwaltschaft stattfinden und zwar nicht nur Verfahrenskontrollen der Verteidigung, sondern insbesondere auch und ganz besonders der eigenen oder seitens des Gerichts gegenüber der Staatsanwaltschaft oder der StA gegenüber dem Gericht? Gehört nicht auch dazu, dass das Zwischenverfahren beispielsweise ernst genommen wird? Gehört nicht auch dazu, dass Durchsuchungsbeschluss oder Haftbefehle nicht allzu leicht ohne Prüfung und ohne Aktenvorlage erlassen werden? So habe ich in finanzgerichtlichen Verfahren schon ein paar Ausschlussfristen für die jeweiligen Kläger gesetzt bekommen – ich habe aber noch nie erlebt, dass das Finanzamt eine Ausschlußfrist gesetzt bekam. Dabei ginge der § 79 b FGO theoretisch für beide Prozessbeteiligte … es gibt auch erstaunlicherweise keine Statistiken, wie viele § 79 b-Fristen ein Richter oder ein Senat oder ein Finanzgericht gegenüber Klägern einerseits und wieviele gegenüber Behörden verhängt. Wären die Zahlen 1.000 zu Null? Oder wären die Zahlen ausgeglichen? Ich weiß es nicht. Vielleicht kann mir jemand einen Hinweis auf eine diesbezügliche verlässliche amtliche Statistik schicken .. ?
Kann Arbeitsüberlastung und Stress, nicht besetzte Stellen und Verkrustungen, das Gefühl unkündbar zu sein und machen zu können, was man will, usw. tatsächlich Grund für ein Darüberhinwegwischen bei Beschlüssen, Anträgen etc. sein? Oder gibt es so etwas überhaupt nicht? Sind das nur Gedanken von Leuten, die sich ungerecht behandelt fühlen, die es in Wahrheit aber gar nicht sind? Leidete, wenn es so etwas tatsächlich gäbe, da nicht zu sehr unser Rechtsstaat? Und wie könnte man so etwas abstellen? Mit so einem albernen Rotationsprinzip im Sitzungssaal, wie ich es oben vorgeschlagen habe? Oder haben Sie besser Ideen? Könnte so eine ernsthafte Reform aussehen oder beginnen? Was meinen Sie? Ich bin gespannt auf Ihre Gedanken … Aber wenn Sie hierzu was schreiben, bleiben Sie bitte sachlich. Respektieren Sie Meinungsfreiheit. Sachliche Argumente lade ich gerne hoch und freue mich auf eine wissenschaftliche und pragmatische Diskussion …
Schweißgebadet wachte ich auf … keine einzige Äußerung auf diesen geträumten Blog im Internet … nicht mal der Blog war da … also war das alles doch nur ein komischer Traum. Ich lachte, ging ins Bad, wusch mich, putzte meine Zähne, rasierte mich und freute mich auf meinen Frühstückskaffee … alles gut, alles wie immer, nur was Komisches geträumt … ich muss doch mal bei Sommer nachlesen, ob das da so wirklich stand … dachte ich mir … komisch, was man so manchmal träumt.