Ihre Kinder machen für sie immer die Post, schauend sich dann Unterlagen an, sitzen über Ordnern, sprechen mit ihr – aber sie interessiert das alles nicht. Nicht mehr. Sie versteht das auch nicht. Sie muss morgen zum Arzt. Das muss sie noch mit ihrem Mann besprechen, ob er sie hinfährt oder ob sie sich wieder das Taxi holen muss wie beim letzten Mal. Die Kinder haben über Bankunterlagen mit ihr gesprochen, waren überrascht über ein Schreiben, in dem die Bank Anna und ihren Mann zur Regula… – na, sie weiß nicht mal mehr wie das hieß … naja es wird ihr schon wieder einfallen, also irgendwas regeln oder so … mit ihrem Konto – aufforderte. Sie hat das nicht verstanden. Was soll das auch sein … das Regula … oder so ähnlich.
Sie macht seit Jahren keine Steuererklärung mehr. Hat irgendwann aufgehört damit. Aber sie hatte ja sowieso nie Einnahmen. Früher mal, ja. Aber das war sie noch jung, da hatten sie noch keine Kinder. Da hatte sie noch Einnahmen. Als Angestellte. Doch als dann ihre erste Tochter kam, da hat sie aufgehört. Und dann kam ihr Sohn und dann noch die zweite Tochter. Dann hat sie nicht mehr wieder angefangen mit dem Arbeiten. Sie hätte gerne noch mal gearbeitet, hat ihr immer Spaß gemacht. Sie war bei der Bank. War immer schön. Sie ging immer gerne arbeiten, aber ihr Mann meinte, sie bräuchte das nicht. Sie kümmerte sich also um das Haus und die Kinder. Vielleicht geht sie später noch mal arbeiten, sie bespricht das am besten mit ihrem Mann. Er hat sich immer um alles gekümmert. Geldverdienen, alles mit Geld, das hat immer er gemacht. Sie bekam immer nur ihr Haushaltsgeld von ihm. Jeden Monat. Immer reichlich. Es ging ihnen immer gut. Sie kann sich nicht beklagen. Ob die von früher immer noch bei der Bank sind? Hat schon ihre Kolleginnen so lange nicht mehr gesehen – aber wenn sie jetzt wieder arbeiten geht, werden sie sich ja häufiger wieder sehen, so wie früher. Ach, das wird schön. Da freut sie sich schon.
Aber wenn sie in das neue Ferienhaus zieht, in die Ferienhausanlage, wie geht das dann mit ihrer Arbeit? Sie muss das noch mal mit ihren Kindern besprechen.
Sie weiß gar nicht, welcher Tag heute ist. Mittwoch oder Donnerstag? Ist ihr eigentlich auch nicht so wichtig. Sie muss doch mal die Maja oder Magdalena fragen, was mit ihren Kolleginnen ist und ob die alle noch da sind. Oder die anderen netten Leute, die da immer vorbeikommen. Maja war vor ein paar Tagen etwas überarbeitet. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um ein Abbrennen des Ofens zu verhindern. Die Milch war übergekocht und längst schwarz auf der Herdplatte angebrannt. Anna hatte Milch für einen warmen Kakao aufgestellt, war dann aber in den Garten gegangen um dort nach dem Rechten zu sehen. Maja hatte dann den Herdbrand gelöscht. Anna hat das gar nicht mitbekommen. Es roch nur etwas streng in der Küche.
Und das mit dem Konto, was die Kinder sagten, hat sie auch nicht verstanden. Da hat sich doch immer ihr Mann drum gekümmert. Vielleicht fragt sie auch mal den netten Fahrer, der sie letztens zum Arzt brachte.
Sie weiß gar nicht, welche Jahreszeit wir jetzt haben … es muss Frühjahr sein, die Äpfel sind doch ganz reif und hängen rot an den Bäumen – oder?
Das Schwarzgeldvermögen, das vor vielen Jahren, ggf. vor Jahrzehnten ins Ausland gebracht wurde, liegt in Luxemburg. Die Bank weiß nichts von dem Tod von Annas Ehemann. Sie weiß auch nichts von ihrer Demenz-Erkrankung. Die Post wird postlagernd dort verwahrt. Im Rahmen der anstehenden Regularisierung forderte die Bank Anna und ihren Ehemann auf, das Konto nachzuerklären, also eine Selbstanzeige beim Finanzamt einzureichen und der Bank die Ermächtigung zum automatisierten Datenaustausch zu unterschreiben und zurückzusenden. Doch da die Bank keine Antwort erhielt, hat sie nunmehr die beiden per Einschreiben mit Rückschein angeschrieben und zur Selbstanzeige und Zustimmung zur Datenübertragung aufgefordert, andernfalls mit Kündigung gedroht. Das alles hat Anna nicht verstanden. Sie hat das Einschreiben nicht einmal geöffnet. Für ihre Kinder ist es höchste Zeit, dass Mutter in ein Pflegeheim kommt. Die Pflege durch die ambulante Pflegekraft und teilweise durch die Nachbarn funktioniert nicht mehr so wirklich. Es ist einfach zu viel Arbeit. Und vor allem können sie Mutter nicht zeitweise allein und unbeaufsichtigt lassen. Denn Mutter geht immer öfter eigenartige Wege. Sie braucht ständige Betreuung. Jemand, der ganztags auf sie aufpasst. Der jüngste Knaller der Mutter war, dass sie sich über ihren Morgenmantel den Pelzmantel anzog, zur nahegelegenen Straßenbahnhaltestelle lief und mit der Straßenbahn durch die halbe Stadt fuhr, bevor sie von zwei Kontrolleuren nach ihrem Fahrschein gefragt wurde und sie auf ihren Ehemann verwies, der weiter vorne säße. Sie ist dann mit der Polizei nach Hause gebracht worden. Es war wohl schwierig für die Kontrolleure bzw. die Polizei zu ermitteln, wer sie sei und wo sie wohne. Aber sie hatte Gott sei dank in ihrer Manteltasche ungeöffnete Post an sich dabei, auf der im Adressfeld natürlich Annas Name und ihre Anschrift stand. Es war wohl nur eine zeitlang den Kontrolleuren und der Polizei unklar, ob sie dieses Schreiben absenden wollte oder ob sie an sie adressiert waren. Aus einem schon ein paar Wochen alten Poststempel schloss die Polizei aber dann, dass es Eingangspost an Anna war – die Frau mit Morgenmantel und Pelzmantel die auf den Briefen angeschriebene Adressatin war …
Aber so was kann immer wieder passieren. Wer weiß, was Mutter als nächstes einfällt …