Ist 30/70 grundsätzlich eine sachgrechte Schätzungsmethode?
Zugleich Kritik an BFH, Beschluss v. 11.01.2017 – X B 104/16
Von RA Dr. jur. Jörg Burkhard, Fachanwalt für Steuerrecht und Strafrecht, Wiesbaden
Der BFH behauptet, dass grundsätzlich eine Nachkalkulation der Getränke ausreichen soll und dann insgesamt der Gesamtumsatz im Verhältnis 30/70 im Schätzungswege erhöht werden könne (BFH v. 11.01.2017 – X B 104/16).
Dem kann nicht gefolgt werden.
In der o.a. Entscheidung formuliert der BFH wie folgt wörtlich:
„Grundsätzlich ist die im Streitfall vom FA vorgenommene Schätzung auf Grundlage einer Getränkekalkulation auch aus Sicht des Senats eine geeignete Schätzungsmethode, die auf betriebsinternen Daten aufbaut. Diese sog. „30/70-Methode“ basiert nämlich auf dem Gedanken, dass in einem Speiserestaurant das Verhältnis zwischen verzehrten Speisen und Getränken nur geringen Schwankungen unterliegt, da die Gäste typischerweise im Durchschnitt zu jeder Speise eine bestimmte Menge an Getränken zu sich nehmen. Dieser Gedanke rechtfertigt es, aus der Höhe der kalkulierten Getränkeumsätze auf die Höhe der Speisenumsätze zu schließen, ohne dass diese gesondert anhand des Wareneinkaufs kalkuliert werden müssten, zumal eine solche Speisenkalkulation in einem Restaurant meist aufgrund des umfangreichen Angebots nur schwer durchführbar ist.“
Schon die Ausführungen des BFH in dieser Entscheidung wie vorstehend zitiert, zeigen, dass der BFH überhaupt nicht verstanden hat worum es geht.
Denn letztendlich basiert die 30/70 Methode auf einem anderen Gedanken, den der BFH verschweigt und weil er ihn verschweigt, offenbar nicht verstanden hat und die Voraussetzungen nicht sachgerecht prüft. Denn die Methode basiert auf dem Gedanken, dass der Gastwirt nachts illegal ganze Tische mit einer großen Rechnung storniert. Die Vermutung ist dabei, dass der Gastwirt nachts seinen Umsatz illegal reduzieren möchte und dann nach Geschäftsschluss, unmittelbar bevor er den Z-Bon zieht, die Tische mit einem großen Gesamtumsatz einfach löscht. Die Erlöse reduzieren sich aufgrund des Löschens großer Umsätze. Aus dem ursprünglichen Umsatz von 3.456,50 € löscht er einen Tisch mit einem Umsatz von 256 €, einen weiteren Tisch mit einem großen Umsatz von 294 € und einen weiteren mit 180,90 € und einen mit 207,50 €.
Im Übrigen lässt er die Umsätze wie gebucht.
Durch den illegalen Nachtstorno hat er 938,40 € sorniert und den Umsatz auf 2.518,10 € rechtswidrig reduziert. Die Annahme basiert darauf, dass der Gastwirt sich die größten Umsätze herausgepickt und diese löscht. Hier kommt dann der Gedanke des BFH zum Tragen, den er in obiger Entscheidung zitierte: bei solchen Tischen wird eine durchschnittliche Getränke- und Speisenverteilung vermutlich stattgefunden haben. Bei den jeweilieg stornierten Tischen werden vermutlich die Gäste eine bestimmte Anzahl von Getränken und eine bestimmte Anzahl von Speisen konsumiert haben. Die Gäste werden dabei als Durchschnittsgäste vermutlich die in dem Lokal übliche Anzahl von Getränken und Speisen konsumiert haben, sodass die Stornos vermutlich die im Lokal übliche Normalverteilung der Getränke zu Speisen beinhaltet haben werden. Dabei ist das Verhältnis 30/70 ein häufig anzutreffendes Verhältnis, nämlich der Getränkeanteil beträgt wertmäßig ca. 30 %, der Speiseanteil beträgt häufig 70 % der gesamten Tischrechnung.
Heute ist es indes üblich, nicht von einer Verteilung 30/70 auszugehen, denn anhand der vorgefundenen Aufzeichnungen entsprechen der Einzelaufzeichnungsverpflichtung und der Fiskalisierung der Kassen also der dauerhaften unlöschbaren Speicherung aller Umsätze ist das konkrete Verhältnis zwischen Anteil der Getränke und dem Anteil der Speisen auszurechnen.
Dabei werden in der mittleren bis gehobenen Gastronomie 75 % Speiseanteil und entsprechend 25 % Getränkeanteil kostenmäßig festgestellt.
Soweit der BFH in seiner vorgenannten Entscheidung die 30/70 Methode als eine geeignete Schätzungsmethode darstellt, verschweigt er also die Grundannahmen und die Grundvoraussetzung dieser Schätzung, dass nachts heimlich vom Gastwirt diese illegalen Nach- oder Nacht- Stornos vorgenommen wurden. Wenn diese heimlichen Nacht -Stornos aber nicht nachgewiesen sind, ist völlig unklar, warum die 30/70 Methode eine angemessene Methode zur Nachkalkulation sein soll.
Insoweit können natürlich bei den Getränken singuläre Probleme auftreten, etwa ein erhöhter Schwund durch illegale Freibiere durch die Mitarbeiter an Freunde und Bekannte, ein Leck in Zapfleitungen, fehlerhafte Lieferscheine und Rechnungen, nicht berücksichtigte Rücklieferungen oder nicht berücksichtigte Endbestände, oder ein illegaler überhöhter Eigenkonsum oder ein schlichter Diebstahl, sodass bei den Getränken ein überproportionaler „Schwund“ sich bei der Ausbeutekalkulation ergeben kann.
Wenn aber keine heimlichen Nacht-Stornos vorgefallen bzw. nachgewiesen sind, jedenfalls von der Finanzverwaltung nicht einmal behauptet und bewiesen sind, wirft dies die Frage auf, warum nun die Speisen wegen eines Fehlbestandes bei den Getränken analog hoch kalkuliert werden dürfen.
Ohne dass dies verprobt wird und die Finanzverwaltung doch die Darlegungs- und Beweislast für alle steuerlichen Mehrergebnisse trägt.
Der BFH erlaubt in der obigen Entscheidung die blinde Hochkalkulation der Speisen und damit eine Erhöhung der Zuschätzungen um 70 % völlig ungeprüft und scheinbar willkürlich, weil hier die Ausbeutekalkulation bei den Speisen angeblich so schwierig ist.
Die angebliche Schwierigkeit beim Nachweis eines Steuerlichen Mehrergebnisses kann aber doch nicht ernsthaft ein Freibrief zur pauschalen nicht nachgewiesenen Zuschägtzung und dazu auch noch in Höhe von 70 % sein. Damit aber erlaubt der BFH eine Verdachts-Besteuerung, indem er aus ungeklärten fehlenden Getränke-Erlösen ungeprüft den (Trug-)Schluss erlaubt, dass im Rahmen heimlicher Nacht-Stornos auch die Speisen anteilig im üblichen Verhältnis storniert worden wären. Ob dies aber so ist, müsste doch die Finanzverwaltung erst einmal nachweisen.
Warum hier ohne jegliche Darlegung und unter Ausblendung der üblicherweise für Mehrergebnisse bei der Finanzverwaltung liegender Beweislast die Finanzverwaltung einfach auch die Ausbeute bei den Speisen entsprechend dem üblichen Verhältnis von Getränke- zu Speiseerlösen hier die Speisen gleich mit erhöhen darf, bloß weil bei den Getränken eine theoretisch höhere Ausbeutemöglichkeit errechnet wurde, ist nicht verständlich und erscheint willkürlich, zumal die Speisen den wirtschaftlich größeren Anteil mit 70 % ausmachen.
Damit folgt aus einer Getränkenachkalkulation auch indirekt eine Erlaubnis, die Speisen entsprechend anteilig dem üblichen Verhältnis (entweder 30/70 oder im konkreten Verhältnis in der Gaststätte) hoch zu kalkulieren. Ohne jemals geprüft zu haben, ob hier dies nach dem Wareneinkauf überhaupt möglich ist. Damit toleriert der BFH auch unmögliche Speise-Hochkalkulationen, selbst wenn ein entsprechender Wareneinkauf gar nicht vorhanden ist und die Ausbeutekalkulation bei den Speisen ein solches hochkalkulieren gar nicht erlauben würde.
Die Rechtsprechung des BFH ist natürlich falsch und kann so nicht stehen bleiben.
Sie führt ohne Nachprüfung des Wareneinsatzes bei den Speisen und ohne dessen Verprobungen durch eine Ausbeutekalkulation (aus Vereinfaschungsgründen für die Verwaltung, wie das der BFH formuliert, zu willkürlichen Ergebnissen und zu einer ungeprüften Suschätzung und möglicherweise unmöglichen und plausiblen Mehrergebnissen, die sich aufgrund des Wareneinsatzes gar nicht ergeben können.
Damit setzt sich der BFH in Widerspruch zu seiner bisherigen ständigen Rechtsprechung, dass jede Schätzung in sich plausibel, möglich und möglichst zutreffend sein muss (BFH v. 03.07.2018 – VI R 55/16: Das gewonnene Schätzungsergebnis muss schlüssig, wirtschaftlich möglich, vernünftig und plausibel sein (z.B. BFH-Urteile vom 17. Oktober 2001 I R 103/00, BFHE 197, 68, BStBl II 2004, 171; vom 24. Juni 2014 VIII R 54/10, BFH/NV 2014, 1501, Rz 23; vom 23. April 2015 V R 32/14, BFH/NV 2015, 1106, Rz 13; vom 25. April 2017 VIII R 52/13, BFHE 258, 53, BStBl II 2017, 949; in BFHE 258, 272, BStBl II 2017, 992).
Ein weiteres Problem liegt in diesen Fällen darin, dass meist nur für ein Jahr des dreijährigen PZ eine Getränkenachkalkulation von der BIP gemacht wird.
Singuläre Probleme, die die Ausbeutekalkulation offenbart, werden stets als Hinterziehung das Gastwirts interpretiert. Obige Beispiele zeigen, das es nicht so ist. Das Mehr-Ergebnis aus der Ausbeutekalkulation erfolgt dann auch für die anderen beiden Prüfungszeiträume analog. Ohne zu überprüfen, ob dort auch dieselben Ausbeute-Kalkulationsüberhänge vorliegen wie in dem 1. geprüften Jahr.
Wenn aber die Ursachen wie Leck in der Leitung, fehlerhafte oder fehlende Wareneingangskontrolle, Schund, Diebstahl, illegale Freigetränke von Mitarbeitern an deren Freunde und Bekannte usw. in den Folgejahren abgestellt sind wirft sich die Frage auf, warum ein von wem auch immer verursachtes theoretisch rechnerisch mögliches Mehrergebnis ohne nähere Überprüfung auf die Folgejahre übertragen werden können darf.
Da es sich auch hier um Steuer erhöhende Umstände handelt, muss doch auch hier die Finanzverwaltung des Mehrergebnis für jedes andere Jahr im Prüfungszeitraum darlegen und belegen.
Steuerstrafrechtlich ist sowieso dem Gastwirt im Einzelfall nachzuweisen, dass er tatsächlich die Einnahmen hatte und nicht versteuert. Ein selbst theoretisch mögliches Mehrergebnis aus dem Wareneinsatz bedeutet noch lange nicht, dass er den Umsatz tatsächlich machte. Soweit Mitarbeiter illegal mehr tranken, als sie durften oder illegal Freigetränke an Freunde und Bekannte ausschenkten, ist das natürlich keine Einnahme des Gastwirts und folglich natürlich auch keine Hinterziehung durch ihn.
Auch hier liegt natürlich die Darlegungs- und Beweislast steuerstrafrechtlich sowieso aber auch steuerlich bei der Finanzverwaltung. Sie muss nachweisen, dass der Gastwirt diese rein theoretischen Mehrumsätze aus der Ausbeutekalkulation tatsächlich vereinnahmt hat. Allzu häufig wird hier einfach unterstellt, er habe die theoretisch möglichen Mehrumsätze einfach nur nicht versteuert. Auch hier muss man hinterfragen, ob hier die Grenzen zur willkürlichen Verdachtsbesteuerung oder auch im Steuerstrafrecht zur willkürlichen Verdachtsbestrafung häufig überschritten werden